Essen. Viele suchtkranke Frauen haben häusliche Gewalt erlitten. Oft jahrelang. Im Kamillushaus in Essen kämpfen sie gegen die Sucht und das Trauma.
Sie kommen, weil sie süchtig sind nach Alkohol, Cannabis oder Medikamenten. Doch sie kämpfen nicht allein mit der Sucht, sondern mit der Gewalt, die sie erlitten haben. Manche der Frauen, die zum Entzug in die Fachklinik Kamillushaus in Essen-Heidhausen kommen, haben mit knapper Not überlebt, was ihr Partner ihnen angetan hat. Viele haben die jahrelange Pein nur betäubt überstanden. „Die Suchtmittel wirken effektiv gegen Albträume und Flashbacks“, sagt Chefärztin Wibke Voigt. „Bloß muss die Dosis immer weiter gesteigert werden.“
Aus dem vermeintlichen Tröster wird schnell das Suchtmittel
So wird der „Tröster“ zum Suchtmittel, zum nächsten Problem. „Häusliche Gewalt ist einer der wichtigen Auslöser für Suchterkrankungen bei Frauen“, sagt die Psychiaterin, die täglich mit dem Thema zu tun hat.
Dass sie nun darauf aufmerksam macht, ist der Aktion „Orange the World“ geschuldet, die bis zum 10. Dezember weltweit auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam macht. Zum Start am 25. November erstrahlten viele Essener Gebäude in der Kampagnenfarbe Orange, auch das Kamillushaus.
Hier arbeitet Voigt mit Frauen zusammen, die oft eine lange Odyssee hinter sich haben, bevor erkannt wird, dass sie eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) haben. Wie man sie gemeinhin von Soldaten kennt, die Kampfeinsätze hinter sich haben. Der Kriegsschauplatz der Frauen ist ihr Zuhause. „Familie ist ein Ort von Liebe und Zuwendung – und ein Ort von Gewalt.“
Die heile Familie war bloß eine Fassade
Claudia Schnitzler (Name geändert) hat das fast zwei Jahrzehnte lang ertragen und geschwiegen: „Ich wollte die Fassade aufrechterhalten, es war ein Theaterstück.“ Für Verwandte, Bekannte, auch für ihre Töchter: „Ich wollte ihre Welt nicht zerstören. Da schluckt man lieber selber.“ Regelmäßig hat ihr Mann sie vergewaltigt: alkoholisiert, mit massiver Gewalt, sadistischer Grausamkeit. Ebenso regelmäßig entschuldigt er sich, verspricht, er werde ihr nie wieder etwas tun. „Beim nächsten Mal war es noch schlimmer.“
Sie glaubt ihm längst nicht mehr. Wenn sein Feierabend naht, setzt sie sich ins Auto und fährt bis zum frühen Morgen stundenlang durch die Gegend, ohne Ziel, aber in Sicherheit. Manchmal sei sie eingeschlafen, bevor sie fliehen konnte. „Dann war es zu spät.“
Drogen auf Rezept: Ärzte verschrieben ihr Psychopharmaka gegen die Angst
Wegen Schlafstörungen und weil sie übernervös ist, wendet sie sich an ihre Hausärztin, die ihr Benzodiazepine verschreibt: Psychopharmaka, die Ängste lösen und den Schlaf fördern. „Das hat mir geholfen“, sagt die heute 52-Jährige. „Ich hab’ immer mehr genommen.“ Über Jahre. Von einem Mittel, das man nur wenige Monate einnehmen sollte. Dazu konsumiert sie Cannabis, um zu verdrängen. Nur Alkohol rührt sie nicht an: Das ist die Droge ihres Mannes.
Auch interessant
In der Folgezeit sucht sich Claudia Schnitzler immer wieder ärztliche Hilfe: Sie hat schwere körperliche und psychische Beschwerden, muss operiert werden, wird psychologisch behandelt, von einem Suizidversuch abgehalten. Häufig erhält sie Benzodiazepine auf Rezept, hochdosiert. Von dem Terror, den sie zu Hause erlebt, erzählt sie den Ärzten nicht: „Nicht mal, wenn ich danach gefragt wurde. Ich hatte Schamgefühle, dachte, sowas passiert nur anderen.“
„Es ist ein Wunder, dass sie überlebt hat“
Die Familie lebt nicht in prekären Verhältnissen, im Gegenteil: Ihr Ehemann hat eine gute Position, ist in der Firma angesehen. Sie habe das Haus sauber gehalten, auch nach den schlimmsten Exzessen. „Es sah immer so aus, als sei nichts passiert. Ich habe die Spuren verwischt.“ Sie – nicht der Täter. Der richtet sie sogar während des Aufenthaltes in der psychosomatischen Klinik so zu, dass es nach Ansicht von Wibke Voigt „ein Wunder ist, dass sie überlebt hat“.
Einer Krankenschwester fällt nach dem fatalen Wochenendbesuch zu Hause auf, dass die Patientin mehrmals am Tag im Bad verschwindet und Sitzbäder nimmt. Behutsam überredet sie Claudia Schnitzler zur Untersuchung auf der gynäkologischen Station. Da liegt sie zehn Tage nach der Attacke und realisiert erst allmählich, dass all das, was die beiden Ärztinnen besprechen, ihren Körper betrifft. Anzeige erstattet sie nicht. „Die haben mich gefragt, aber ich wollte meine Töchter schützen. Die haben ihren Vater vergöttert und bis heute ein liebevolles Verhältnis zu ihm.“ Als sie sich endlich von ihrem Mann trennt, sagt sie den erwachsenen Töchtern nur, „dass ihr Vater nicht immer so ist, wie er scheint“.
Orange the World: Kampagne fordert Ende der Gewalt an Frauen
Die Aktion „Orange the World“ lenkt vom 25. November, dem Tag gegen Gewalt an Frauen, bis zum 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, weltweit die Aufmerksamkeit auf die Forderung, Gewalt an Frauen und Mädchen ein Ende zu setzen. Orange haben die Vereinten Nationen als leuchtendes Symbol für diese Zukunftsvision gewählt. Zum Auftakt der Aktion am 25. November erstrahlten auch in Essen zahlreiche Gebäude in Orange.
Laut Bundesfamilienministerium haben im vergangenen Jahr knapp 142.000 Menschen in Deutschland Gewalt durch den Partner erlebt – 80 Prozent der Opfer waren Frauen. Auch in Essen waren zum Beginn der Aktionswochen wieder alle Plätze im Frauenhaus belegt. „Jeder von uns hat in seinem Bekanntenkreis jemanden, der körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt erlebt hat“, sagt Chefärztin Wibke Voigt von der Fachklinik Kamillushaus.
Nach dem heimlichen Auszug vor anderthalb Jahren ist Claudia Schnitzler überzeugt, dass nun schlagartig alles besser werden müsse. „Ich dachte, ich habe es geschafft. Doch in meinem Kopf lief der Film weiter. Ich musste mich betäuben, hab’ wieder Benzos und Cannabis genommen.“
Für Wibke Voigt ist das nicht überraschend: „So viel Hilflosigkeit und Todesangst kann unser Gehirn nicht verarbeiten, die traumatischen Erinnerungen fliegen wie Splitter im Kopf herum.“ Man spreche auch von einem Traumagedächtnis, erklärt die Psychiaterin: Das bewirke, dass bestimmte Bilder, Gerüche, Geräusche die alten (Todes-)Ängste auslösen können. Bei diesen Flashbacks sind die Betroffenen mitunter wie weggetreten: „Es ist ein sprachloser Terror“. Nachts quälen sie Albträume, sie sind in einer Schleife gefangen.
Opfer häuslicher Gewalt haben Traumata wie Kriegsveteranen
Voigt hat das Phänomen schon in frühen Berufsjahren in der Psychiatrie beobachtet und gehört, wie erstmals bei Vietnam-Veteranen die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung gestellt wurde. Später lässt sie sich zur Traumatherapeutin ausbilden. Seit 14 Jahren leitet sie Suchtfachkliniken, sieht Patienten „aller Schichten“. Man könne eine PTBS heute gut behandeln, indem man die Patienten nach ausreichender Stabilisierung mit ihren Traumata konfrontiere, diese nach und nach abarbeite. „Dann verschwinden die Albträume und die Flashbacks.“
Claudia Schnitzler hat zwei Anläufe zur Entgiftung und Therapie gebraucht. Bis heute schweigt sie über das, was ihr Mann ihr angetan hat. Nimmt lieber hin, dass ihr Bekannte die Trennung vorwerfen. „Ich selbst mache mir nur Vorwürfe, dass ich nicht früher gegangen bin.“ Noch kann sie nicht wieder arbeiten, doch dass ist ein Ziel, das sie mit ihrer Psychiaterin ansteuert; ein, zwei Jahre könne das dauern. Erstmal lerne die Patientin, „dass sie hier sicher ist“.
Eine solche Therapie sei harte Arbeit, sagt die Wibke Voigt. „Es ist das Beste, was mir passieren konnte“, sagt Claudia Schnitzler.
- Weitere Nachrichten aus Essen lesen Sie hier.