Essen. Vielerorts fehlen Hausärzte, wenige Medizinstudenten streben den Beruf an. So wirbt die Universitätsmedizin in Essen für die Allgemeinmedizin.
Das Medizinstudium ist überlaufen, das Interesse am Arztberuf seit Jahrzehnten ungebrochen hoch – nur in die Hausarztpraxis will fast niemand. Beim „Tag der Allgemeinmedizin“ an der Uniklinik Essen gab es dieser Tage eine schonungslose Analyse, mutmachende Beispiele und ministeriellen Besuch.
Auch in Essen sind manche Stadtteile mangelhaft mit Hausärzten versorgt
Prof. Stephan Wilm leitet das Institut für Allgemeinmedizin (ifam) an der Uni Düsseldorf und beobachtet mit Sorge, wie die Zahl der Hausärzte hierzulande abnimmt: Im Jahr 1998 hätten sie einen Anteil von knapp 41 Prozent an allen Medizinern ausgemacht. Zu wenig, habe es damals geheißen: Ihr Anteil müsse auf 60 Prozent steigen. Stattdessen rutschte die Quote bis zum Jahr 2022 auf 36 Prozent. Wenn das so weiter gehe, habe man in 30 Jahren keine Hausärzte mehr.
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Unterversorgung gebe es schon heute, vor allem in ländlichen Regionen. Die Stadt Essen sei insgesamt noch nicht betroffen, aber unterversorgte Stadtteile finde man auch hier, sagt Wilm und macht den spontanen „Praxistest“: Fragt also, ob im Fachpublikum ein Hausarzt aus Altenessen sitze, worauf sich niemand meldet. Für Bredeney gehen dann gleich fünf Hände hoch.
Wenn sich nichts ändere, so Wilms Folgerung, werde in wenigen Jahren überall Altenessen sein – nicht Bredeney. Das liege auch an einem Studium, das sehr auf die Wissenschaft ausgerichtet sei und oft nur unzureichend auf die Praxis vorbereite. Es gebe Studenten, die das auf die Formel bringen: „Ich weiß viel, aber ich kann nichts.“ Manche von ihnen kämen nie in der Patientenversorgung an.
Nur fünf bis zehn Prozent der Medizinstudenten wollen Hausarzt werden
Nur zwischen fünf und zehn Prozent der angehenden Mediziner strebten in die Primärversorgung, also den allgemeinmedizinischen, hausärztlichen Bereich. In Frankreich oder den Niederlanden liege der Anteil bei 30 bis 40 Prozent. Dazu trage wohl auch bei, dass der Medizinernachwuchs im Studium früh und dauerhaft mit dem Hausarztsystem in Berührung komme.
Wilm plädiert daher für eine neue Approbationsordnung, die die Praxisanteile im Studium auch hierzulande stärkt. „Die kommt nicht“, wird Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann später bei seinem Eintreffen murmeln. Eine bundespolitische Entscheidung und die Uneinigkeit der Experten verhindern, dass sich daran zeitnah etwas ändern wird. Dafür testet die Universität Duisburg-Essen – wie auch Bochum, Düsseldorf und Witten/Herdecke – im 2021 gestarteten Projekt „Localhero“, wie man die Lehre so gestalten kann, dass die „Attraktivität des Fachs Allgemeinmedizin für junge Mediziner“ gesteigert wird.
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Dazu will Localhero den etwa 25 Teilnehmern pro Semester während des gesamten Studiums ein praxisnahes Lehrangebot machen: vom Kennenlernen des Patienten über die Ganzkörperuntersuchung bis zur Palliativversorgung. Auch Schauspiel-Patienten stehen fürs Training bereit.
Bis zu sechs Wochen hospitieren die Studenten in einer hausärztlichen Praxis, bevorzugt auf dem Land. So soll das Projekt helfen, „Vorurteile gegenüber der Landarzttätigkeit abzubauen“. Die hat Phillip Aß nicht: Er ist über die „Landarztquote“ ins Studium gekommen, hat sich also von vornherein verpflichtet, nach der Facharztausbildung „für zehn Jahre in einer unterversorgten Region als Hausarzt zu arbeiten“. Localhero ermöglicht ihm, sein späteres Berufsfeld schon frühzeitig kennenzulernen.
Medizinstudium mit Abi-Schnitt 3,1
Für den 28-Jährigen bedeutete die Landarztquote eine große Chance. „Mein Abi war nicht gut genug.“ Mit seinem Schnitt von 3,1 war der Medizinstudienplatz fast unerreichbar. Er habe eine teils schwierige Schulzeit gehabt, vielleicht habe ihm damals auch die nötige Reife gefehlt. Doch seither hat er sein Ziel hartnäckig verfolgt: Erst einen Bundesfreiwilligendienst im pflegerischen Bereich gemacht, dann eine dreijährige Pflegeausbildung, weitere drei Jahre hat er im Beruf gearbeitet, „fast immer internistisch, fast immer auf der Intensivstation“.
Dank seiner Berufserfahrung hat Phillip Aß keine Berührungsängste gegenüber Patienten, trotzdem profitiere er vom Projekt: „Wir lernen im Studium total viel Theorie, Localhero bereitet uns auf die Praxis vor, vermittelt handwerkliche Dinge.“ Auch die Anforderungen des Studiums bereiten ihm übrigens keine Probleme: „Ich habe alles auf Anhieb bestanden, und das auch sicher.“ Spricht‘s und klopft auf Holz.
Aß ist jetzt im achten Semester. Dass er nach dem Studium als Landarzt startet, bereitet ihm keinen Kummer: „Es war kein Kompromiss, sondern eine Option.“ Phillip Aß verkörpert idealtypisch den Kandidaten, den sich Landesgesundheitsminister Laumann für sein Programm erhofft hatte: Er wolle niemanden zwingen, eine ungeliebte Aufgabe zu übernehmen. „Mir ging es immer darum, denen, die Landarzt werden wollen, zu ermöglichen, einen Studienplatz zu bekommen.“
Minister wirbt für die Praxis auf dem Land
Das Interesse sei groß, der Zugang keineswegs einfach: Berufserfahrung und Mediziniertest spielen eine Rolle, auch die Abi-Note fließe ein. Ab 2025/26 kommen die ersten „Landarzt“-Studierenden in die Praxis. Daneben verfolge das Land auch andere Ansätze, um für mehr Medizinernachwuchs zu sorgen, sagt Laumann. So habe man etwa an der Uni Bielefeld eine medizinische Fakultät mit 300 neuen Studienplätze eingerichtet.
Ob die Ansätze reichen? Ob die Zahl der Hausärzte ohne Änderung der Approbationsordnung steigt? Mancher im Saal ist da skeptisch. Laumann wirbt am Ende noch mal, dass es in ländlichen Regionen ebenso moderne Praxen gebe wie in der Stadt. Manches fernsehtaugliche Klischee habe dagegen wenig mit der Wirklichkeit zu tun: „Der Landarzt muss kein Flugzeug fliegen, die Kuh behandeln und nebenbei die Eheberatung machen. Aber: Der Arzt hat auf dem Land noch eine herausragende Stellung.“
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