Essen. Der fachärztliche Notdienst in Essen soll wegfallen. Einspringen müsse wohl der ohnehin überlastete Rettungsdienst, warnt ein Facharzt.
Die medizinische Notfallversorgung in Essen steht vor einem erheblichen Umbau: Zum 1. April 2024 soll der fachärztliche Notdienst weitgehend abgeschafft werden. Patienten und Patientinnen können sich abends oder am Wochenende dann nicht mehr gezielt an Orthopäden, Gynäkologen, Chirurgen oder andere Fachärzte wenden, sondern müssen das allgemeinärztliche Angebot wahrnehmen. „Das bedeutet eine deutliche Reduzierung der Versorgung“, sagt der Urologe Dr. Tobias Jäger.
Bislang teilten sich etwa die 22 Essener Urologen die Noteinsätze so auf, dass jeder monatlich im Schnitt 1,5 Dienste übernehme, erklärt der Mediziner mit Praxis in Rüttenscheid. Am Wochenende sind sie ganztägig im Einsatz, mittwochs und freitags ab 13 Uhr, an anderen Wochentagen starten sie abends. „Bisher konnten wir das ganz gut bewerkstelligen“, sagt Jäger. Den Bedarf gebe es auch.
Regelmäßig werde er in Altenheime gerufen, um den Bauchdeckenkatheter eines Bewohners oder einer Bewohnerin zu wechseln. „Das geht recht schnell, darf aber ausschließlich von einem Urologen gemacht werden“, betont Jäger. Und: Wenn sich der Katheter gelöst habe, müsse der Wechsel möglichst binnen einer bis anderthalb Stunden erfolgen, „weil sich sonst die Öffnung schließt“. In solchen Fällen könne das Pflegepersonal also nicht warten, bis die Facharztpraxis am nächsten Tag wieder öffne, sondern rufe den Urologen im Notdienst.
Arzt: Zahl der Krankentransporte in Essen wird steigen
Wenn es dieses fachärztliche Angebot ab April nicht mehr gebe, müssten die Betroffenen in Zukunft mit dem Rettungswagen in ein Krankenhaus gebracht werden. Der Katheter-Wechsel, den ein Urologe im Seniorenheim in fünf Minuten erledige, koste so mehr Zeit, Aufwand – sowie Aufregung für die Patienten. „Demenzkranke Senioren brauchen Tage, bis sie nach einem Krankenhausaufenthalt wieder orientiert sind“, sagt Tobias Jäger.
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Im Vergleich zum Rettungswagen sei sein Einsatz auch kostengünstiger: „Ich bekomme dafür etwa 100 Euro, da ist ein Krankentransport viel teurer.“ Auch sei es erklärtes Ziel der Gesundheitspolitik, den überforderten Rettungsdienst zu entlasten: In Bagatellfällen sollen Patienten statt der Notfallnummer 112 den ärztlichen Bereitschaftsdienst 116 117 anrufen. „Hier passiert jetzt genau das Gegenteil: Die 116 117 wird geschwächt, mehr Rettungsfahrten werden provoziert.“
Im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) ist Essen die letzte Stadt, in der es den fachärztlichen Notdienst noch gibt. Essener erreichen über die 116 117 neben Urologen auch Gynäkologen, Chirurgen, Orthopäden, Neurologen, Radiologen und Dermatologen im Notdienst. „Es ist eine Insel-Lösung, aber die hat sich bewährt“, sagt Tobias Jäger. Das Angebot stelle eine gute Versorgung sicher.
Belastung der Ärzte soll gerechter verteilt werden
Notdienstpraxen auf dem Prüfstand
Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO) hat in Essen drei allgemeinärztliche Notdienstpraxen: im Philippusstift Borbeck sowie in den Krupp-Krankenhäusern Rüttenscheid und Steele. Im Januar 2024 kündigte die KVNO Essen in einem Brief an die Ärzteschaft an, „mittel- bis langfristig“ zu prüfen, ob man drei der Praxen brauche.
Neben den allgemeinen Notdienstpraxen gibt es die Kinderarztpraxis am Elisabeth-Krankenhaus in Huttrop, die HNO-Praxis im „Krupp“ Rüttenscheid und die Augenärztliche Praxis in der Uniklinik (Holsterhausen).
Zudem bieten Gynäkologen, Chirurgen, Orthopäden, Neurologen, Dermatologen, Radiologen und Urologen fachärztliche Notdienste an – diese sollen ab April wegfallen.
Dass der fachärztliche Notdienst nun abgewickelt werden soll, habe in der Ärzteschaft eine „intensive Diskussion über Vor- und Nachteile“ ausgelöst, schreiben auch KVNO und Ärztekammer Essen Anfang Januar 2024 in einem Rundbrief an ihre Mitglieder. Neben den urologischen seien vor allem auch „gynäkologische Themen“ betroffen.
Trotzdem will man die Fachärzte nun in den Notdienst der Allgemeinärzte eingliedern: um Letztere zu entlasten und „Ungleichheiten“ in der Ärzteschaft beseitigen. Tobias Jäger kann das sogar verstehen: „Wir Fachärzte mussten die Umlage für den Notdienst bisher nicht zahlen.“ Ab April sollen sie zahlen und pro Jahr jeweils einen Fahrdienst sowie zwei Dienste in einer der drei Notdienstpraxen übernehmen. Obwohl das für ihn weniger Einsätze wären als heute, ist Jäger beunruhigt: „Als Urologe steht man nicht gern vor einem Herzinfarkt.“ Selbst wenn er in einem Crash-Kurs geschult werden sollte, müsste er den Patienten wohl häufiger raten, lieber die 112 zu wählen.
Ärzte sollen sich für die Notdienste fortbilden
„Jeder zur Teilnahme am ambulanten Notdienst verpflichtete Mediziner im Rheinland ist gehalten, sich entsprechend regelmäßig fachlich fortzubilden“, sagen dazu die Vorsitzenden von Ärztekammer und KVNO Essen, Dr. Matthias Benn und Dr. Tobias Ohde. So sehe es die gemeinsame Notdienstverordnung beider Institutionen vor. Festgehalten sei in der Verordnung auch, dass es nur noch Notdienste der Allgemeinärzte sowie ergänzend der Augen-, HNO- und Kinderärzte geben solle. In Zukunft werde die Belastung im allgemeinen Notdienst auf „weitere ärztliche Schultern verteilt“.
Dass auch mehr Fälle bei den Rettungsdiensten landen, bestreiten KVNO und Ärztekammer. Die „Steuerung ambulanter Fälle“ werde sogar leichter, wenn ab April die Fachärzte die Notdienstpraxen verstärken würden. In ihrem Brief an die Essener Ärzte im Januar klang das noch anders: Da wurde eine mögliche „Verlagerung der fachärztlichen Notfälle auf die entsprechenden Klinikambulanzen und den Rettungsdienst“ eingeräumt.
„Die Feuerwehr kann schon mal einen extra Satz Reifen bestellen.“
Dass es durch den Wegfall des urologischen Notdienstes zu Versorgungsengpässen kommen könnte, sehe man in anderen Städten nicht, sagen Benn und Ohde: „Das Wechseln eines Katheters ist in der Regel ein planbarer medizinischer Eingriff und somit kein spontan eintretender Akutfall für den ambulanten Notdienst.“ Tobias Jäger hat andere Erfahrungen gemacht: „In jedem Notdienst wechsle ich fünf bis zehn Bauchkatheter.“ Laut KVNO und Ärztekammer sollen das demnächst die „für Akutbehandlungen geschulten“ Ärzte im Notdienst erledigen. Jäger glaubt eher, dass Feuerwehr und Krankentransporte ranmüssen: „Die können für April schon mal einen extra Satz Reifen bestellen.“
Unterdessen steht womöglich bald auch eine Reduzierung bei den Notdienstpraxen (NDP) an. Das Rundschreiben von Ärztekammer und KVNO vom Januar endet mit der Ankündigung: „Mittel- bis langfristig sollte über die Notwendigkeit von drei NDP diskutiert werden.“
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