Essen. Abrechnungs- und Zuständigkeitsregeln lähmen den Notdienst, sagt ein Essener Hausarzt. Warum er auch leichte Fälle zur Notaufnahme schicken muss.
Als Pluspunkt für die Patientenversorgung feiern das Philippusstift in Essen-Borbeck und die Kassenärztliche Vereinigung (KV) den Umzug der Notdienstpraxis in die Zentrale Notaufnahme (ZNA) des Krankenhauses: „Es ist ein vernünftiger Ansatz“, sagt auch Dr. Bernd Becker, der seit über 30 Jahren als Hausarzt im Stadtteil praktiziert, über die neue Portalpraxis. Doch das Notsystem werde durch strikte Abrechnungsregeln und komplexe Zuständigkeiten gelähmt: „Das führt zu Qualitätseinbußen für Patienten.“
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Gemeinsame Anmeldung für Notdienstpraxis und Notaufnahme
Dabei sei die Idee, räumt Becker ein, bestechend: Seit dem 1. Januar werden Patienten, die sich an der gemeinsamen Anmeldung in der ZNA melden, nach einem Gespräch mit einer Fachkraft entweder in die Notaufnahme geschickt, die für Erstversorgung und wenn nötig stationäre Aufnahme sorgt. Leichtere Fälle werden an die Notdienstpraxis verwiesen, die am selben Ort von Hausärzten betrieben wird, wenn deren Praxen geschlossen sind; also, mittwoch- und freitagnachmittags, abends, an Wochenenden.
Erweise sich die Ersteinschätzung als falsch, sei ein „nahtloser Sektorenwechsel“ möglich, erklärt Guido Schwarz, leitender Arzt in der Notaufnahme. Und: Von Ultraschall, Röntgen und dem Labor in der ZNA könne ja auch die Notdienstpraxis profitieren. „Da sitzen manchmal auch Patienten, für die die diagnostischen Mittel eines Krankenhauses erforderlich sind.“
Hausarzt: Im Notdienst fehlen mir Schnelltests und Verbandsmaterial
Nur dürfe er als Hausarzt im Notdienst weder die medizinischen Geräte der Klinik nutzen noch auf das neue Labor in der Notaufnahme zurückgreifen, wendet Dr. Becker ein. Er müsse Blutproben weiter quer durch die Stadt ins Zentrallabor in Huttrop schicken. Bis ein Ergebnis vorliege, vergingen oft wertvolle Stunden. Die von Philippusstift und KV angestrebte schnelle Diagnostik und sofortige Therapieeinleitung werde so verhindert.
Anlaufstellen in medizinischen Notfällen
Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO) betreibt in Essen drei allgemeine Notdienstpraxen sowie eine Kinderarztpraxis, eine HNO-Praxis und eine augenärztliche Praxis für entsprechende Notfälle.
Die Portalpraxis im Philippusstift, Hülsmannstraße 17 in Borbeck, ist wie folgt geöffnet: Mo/Di/Do: 19 bis 22 Uhr; Mi und Fr: 13 bis 22 Uhr; Sa/So/Feiertage: 8 bis 22 Uhr.
Der ärztliche Bereitschaftsdienst ist immer telefonisch erreichbar unter: 116 117. Er organisiert auch den Fahrdienst, wenn ein Hausbesuch notwendig ist. In lebensbedrohlichen Fällen wählt man den Notruf 112.
Notaufnahmen in Krankenhäusern sind rund um die Uhr geöffnet. Sie werden auch von Rettungswagen angesteuert, die akute Notfälle wie Schlaganfall-Patienten sowie Schwerverletzte bringen.
Ärgerlich sei auch, dass Schnelltests, mit denen er in zehn Minuten eine Lungenembolie oder einen Herzinfarkt ausschließen könnte, nicht zur Ausstattung der Notdienstpraxis gehörten. „Wenn ich die Tests machen möchte, muss ich sie aus meiner Praxis mitbringen.“ Abrechnen könne er sie über die Kassenärztliche Vereinigung nicht.
Sprich: Will Becker nicht auf eigene Kosten testen, bleibt ihm nur, Verdachtsfälle an die Notaufnahme abzugeben, wo sie womöglich Stunden warteten. Das trage nun nicht zu höherer Patientensicherheit bei. Auch die gewünschte Entlastung der Notaufnahme werde so konterkariert: Statt dass die Hausärzte nur klare Notfälle weitergäben, „müssen meine Kollegen und ich, jeden Patienten dorthin schicken, der Ultraschall, Röntgenbild oder eine schnelle Labordiagnostik braucht“.
Kassenärztliche Vereinigung mahnt Ärzte: Schickt Patienten nicht gleich in die Notaufnahme
Selbst bei rasch behandelbaren Bagatellfällen werde er ausgebremst: So könne er bei einer Verstauchung keinen Salbenverband anlegen, weil die Notdienstpraxis Salbe und geeignetes Verbandsmaterial nicht vorhalte. „Der Patient muss beides in der Notfallapotheke holen und zurückkommen, dann kann ich ihn verbinden.“ Oder er schicke ihn gleich in die Notaufnahme: „Dort führt sowas natürlich zu einer zusätzlichen Belastung.“
Das ist auch der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) aufgefallen: Ende Juni 2023 wandte sich die Kreisstelle Essen in einem Schreiben an alle Ärzte und Ärztinnen, die den allgemeinärztlichen Notdienst versehen. Darin heißt es, dass die Patientenzahlen in den Notdienstpraxen abnähmen, auch weil es eine „vorschnelle Weiterleitung“ in die Notaufnahmen gebe – von Patienten, die dort gar nicht hingehörten.
Die Ärzte werden aufgefordert, im Notdienst alle Patienten anzunehmen, „die nicht offensichtlich einer stationären Behandlung bedürfen“. Sie müssten die kompetente Ersteinschätzung vornehmen; das gelte auch für den Fahrdienst, den ebenfalls niedergelassene Ärzten leisten. „Es ist nicht die Aufgabe der stationären Notfallaufnahmen, ambulante Behandlungen den Portalpraxen abzunehmen, sondern vielmehr sollten die Notaufnahmen entlastet werden“, mahnt die KV.
Bestimmte Spritzen sind nicht mehr im Notfallkoffer
Jeder Fall, den man zur Notaufnahme gebe, müsse „entsprechend dokumentiert begründet“ werden. „Ansonsten denken die Patienten, dass der Arzt von heute einen Mückenstich nicht mehr ambulant behandeln kann, sondern nur noch die chirurgische Notaufnahme.“
Folgt man Bernd Becker, hat die KV den von ihr beschriebenen Missstand durch die Begrenzungen bei Abrechnung und Ausstattung mitverursacht. Wenn er im Fahrdienst sei, könne er einem Patienten mit Hexenschuss nicht mal ein linderndes Medikament spritzen: „Diese Spritzen sind nicht mehr im Notfallkoffer.“ Er könnte sie höchstens auf eigene Kosten mitnehmen. Dann aber zahle er beim Hausbesuch, für den er unabhängig vom Anfahrtsweg 22,12 Euro und im Notdienst 48,95 Euro erhalte, drauf.
Volle Wartezimmer, fehlendes Personal: „Das Gesundheitssystem brennt“
Kassenärztliche Vereinigung und Krankenkassen müssten dafür sorgen, dass der Notdienst so ausgestattet sei, dass er seine Aufgaben erledigen könne: von Angina bis Mückenstich. Vieles, was im Notdienst schieflaufe, betreffe genauso den Praxisalltag. Auch darum seien viele Hausärzte zwischen den Jahren in Streik getreten, sagt Becker, der selbst für seine Patienten da war.
„Es ist genug Geld im System, aber es wird nicht so verteilt, dass die beste, wohnortnahe Versorgung der Patienten sichergestellt ist.“ Volle Wartezimmer, fehlendes Personal und Medikamentenengpässe erschwerten die Situation. Ältere Ärzte suchten oft verzweifelt Nachfolger. „Es geht hier nicht um den Golfplatz oder den dritten Porsche – das Gesundheitssystem brennt.“
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