Essen. Vor fünf Jahren wurden in Essen zehn Zeltdörfer errichtet, um alle Flüchtlinge unterzubringen. Ein Rückblick auf eine Stadt im Krisenmodus.
Fünf Jahre ist es her, dass die Stadt an den Rand der Handlungsfähigkeit geriet: Die Lage spitze sich massiv zu, man werde von der aktuellen Entwicklung überrollt, sprach Ordnungsdezernent Christian Kromberg auf einer Pressekonferenz mit Katastrophenfilm-Potential. Es war im Juli 2015, als Essen beschloss, zunächst zwei Zeltdörfer aufzustellen, um Flüchtlinge unterzubringen.
„Ich muss verhindern, dass hunderte Flüchtlinge vor unseren Einrichtungen campieren“
Die Entscheidung galt als Tabubruch, doch Kromberg, der qua Amt für die Verhinderung von Obdachlosigkeit zuständig ist, stellte klar: „Ich muss verhindern, dass in nächster Zeit hunderte Flüchtlinge vor unseren Einrichtungen campieren.“
Anfang Juli 2015 hatte Essen bereits gut 1600 Menschen in diversen Unterkünften untergebracht, doch Kromberg rechnete vor, dass man bis zum Jahresende mit weiteren 3400 Zuweisungen rechnen müsse. Die letzten freien Plätze werde man binnen Wochenfrist vergeben müssen.
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Das Grundproblem war zu diesem Zeitpunkt nicht neu, Ausmaß und Dramatik allerdings schon. Bereits in den Vorjahren waren die Asylbewerberzahlen gestiegen: Anfangs kamen vor allem Armutszuwanderer aus Osteuropa, später mehr und mehr Kriegsflüchtlinge aus Syrien und anderen Krisenregionen.
Die einen bauen Kleiderkammern auf, die anderen demonstrieren gegen die Neuankömmlinge
2012 und 2013 hatte die Stadt zwei frühere Schulen in Kupferdreh und Frintrop zu Behelfsunterkünften umgewidmet. An beiden Standorten spielte sich ab, was sich sich später vielfach wiederholen sollte: Einige Anwohner äußerten Sorgen, die neuen Nachbarn würden Dreck, Müll und Kriminalität in den Stadtteil tragen. Andere gründeten Runde Tische, um in den Heimen Deutschkurse, Kleiderkammern und Kinderbetreuung zu organisieren.
Rechtsextreme nutzten die Ängste für Protest und Propaganda. Sozialdezernent Peter Renzel wiederum hörte sich auf zahllosen Bürgerversammlungen geduldig Kritik an, warb aber für Verständnis und Toleranz gegenüber den Flüchtlingen: „Sie kommen aus blanker Not.“
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In der Zwischenzeit fahndete die Stadt weiter nach Bett und Tisch: Freie Plätze im Handball-Leistungszentrum werden ebenso belegt wie Zimmer im Gasthaus Budike, Jugendhäuser und Gewerbegebäude werden eilends zu Flüchtlingsheimen. Nur: „Plätze in Turnhallen und Zelten wird es nicht mehr geben“, verspricht Renzel. Zum einen wolle man den Schul- und Vereinssport nicht beeinträchtigen, zum anderen solle es menschenwürdige Alternativen geben.
Zelte und Turnhallen galten in Essen als tabu – nun entstehen zehn Zeltdörfer im Stadtgebiet
Also vermeiden Christian Kromberg und der damalige Oberbürgermeister Reinhard Paß (SPD) auf jener schicksalhaften Pressekonferenz im Juli 2015, das Wort „Zelt“, sprechen verschleiernd von „mobilen Bauten mit festen Wänden und Böden“. In der Folgezeit werden aus jenen zunächst zwei angekündigten Flüchtlingsdörfern, zehn Zeltstädte, die sich über das ganze Stadtgebiet verteilen – und insgesamt fast 4000 Menschen Platz bieten werden.
Vergessen, dass man um des sozialen Frieden willens einst Heime mit maximal 100 Plätzen hatte errichten wollen. Im Mathias-Stinnes-Stadion in Karnap werden es fast 700 sein: eine Herausforderung für die Zeltbewohner und für die Willkommenskultur im Stadtteil. Auf einer Bürgerversammlung wird der als Vermittler bewährte Sozialdezernent niedergebrüllt, und eine junge Ehrenamtliche gibt erschüttert zu Protokoll: „Da waren Leute, die ich schon seit meiner Kindheit kannte, die hetzten und äußerten dabei Vorurteile, die ich nicht für möglich gehalten hätte.“
Für die einen ist es eine Herausforderung – für die anderen ein Millionengeschäft
Als die Zeltdörfer ein Jahr später nach und nach abgebaut werden, bleiben vielerorts Wunden zurück. Für die Stadt erweist sich die Notlösung als in jeder Hinsicht teuer bezahlt, für das in Essen ansässige Unternehmen European Homecare (EHC) ist es ein Millionengeschäft. In der Stunde der Krise punktet die Firma mit ihren Komplettpaketen, doch immer wieder gerät sie wegen teils schwerwiegender Vorwürfe in die Schlagzeilen. Heute werden Essens Flüchtlingsunterkünfte wieder von Caritas und Diakoniewerk betrieben, die in Menschlichkeit machen, nicht in Profit.
Heute hat Essen, die lange Zeit schrumpfende Stadt, 14.000 Einwohner mehr als noch 2014. Der Anteil der Nicht-Deutschen ist von knapp 12 auf rund 17 Prozent gestiegen. Allein fast 14.000 Syrer leben nun in Essen, auch weil viele aus anderen deutschen Städten zu den Verwandten im Ruhrgebiet gezogen sind. Die Zuwanderer haben die Stadt verjüngt, aber viele kämpfen bis heute mit Sprachproblemen, leben von Sozialleistungen.
Oberbürgermeister Paß verspricht: „Wir schaffen das“ – Fünf Tage vor Angela Merkel
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Und natürlich verteilen sich die Neubürger ungleich über das Stadtgebiet. Das lässt sich beispielhaft anhand jener rund 560 betreuten Projektwohnungen zeigen, die die Stadt an Flüchtlinge vergeben hat: 46 liegen in Altenessen, 44 in Altendorf, 38 in Kray... – keine in Kettwig, Haarzopf oder Heisingen. Die Integration soll genau dort geleistet werden, wo ohnedies viele Essener leben, die arm sind, ausländisch – oder beides.
Vorbei jene heißen Sommertage 2015, als die Menschen für einen Deutschkurs Schlange vor der Volkshochschule standen, als die Ausländerbehörde kollabierte, ein Krisenstab die Stadt regierte und Ehrenamtliche Überstunden schoben. „Helfen Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten“, appellierte OB Reinhard Paß am 27. August 2015 an die Bürger. Er versprach aber auch: „Wir schaffen das.“ Fünf Tage bevor sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit diesem Satz in die Geschichtsbücher schrieb.