Dilldorf. .
Hassan legt mit ängstlicher Miene seinen schwarzen Blouson ab, zieht zögernd den Kapuzenpullover über den Kopf und dann das weiße Unterhemd. Zum Vorschein kommen zwei breite Narben auf seiner Brust. Schreckliche Verletzungen, die das ganze Drama des syrischen Bürgerkriegs widerspiegeln. „Ich bin mehrfach gefoltert worden“, berichtet der 27 Jahre alte Schneider. Zusammen mit seiner Frau, den beiden kleinen Kindern (5 Jahre, 11 Monate) und seiner Mutter ist Hassan (Name von der Red. geändert) vor einem Monat nach Deutschland geflohen. Jetzt sind sie in Essen angelandet: im Behelfsheim Dilldorfschule.
Während Hassan mit Händen und Fingern gestikuliert und die Dutzenden Toten in seiner Verwandtschaft aufzählt, kullern seiner 60 Jahre alten Mutter dicke Tränen über die hageren Wangen. „Es sind Freudentränen“, sagt ein Dolmetscher. Freude über die Geborgenheit in Essen, darüber, nach wochenlanger Odyssee endlich ein sicheres Dach überm Kopf zu haben.
Zwei Jahre lang hat die ehemalige Grundschule in der Oslenderstraße leergestanden. Jetzt ist sie binnen weniger Tage zum Asyl für 70 Flüchtlinge geworden – die Hälfte sind Syrer, die anderen Tschetschenen und Inder, Guineer und Mazedonier. Menschen, denen Misstrauen und Verunsicherung in den Augen geschrieben steht. Als würden sie ahnen, dass ihre Ankunft bei so manchem Nachbarn tiefes Unbehagen auslösen könnte.
Geht es nach Menschen wie Jürgen Gentzmer, dem Leiter des Runden Tisches Dilldorf, dann sind die Sorgen der Neuankömmlinge in dieser fast dörflichen Ecke Kupferdrehs ziemlich unbegründet. „Wir wollen Spannung rausnehmen und dafür sorgen, dass das Miteinander mit den Neuankömmlingen in vernünftigen Bahnen läuft“, sagt er.
Im Gemeinschaftsraum hat Heimleiter Ridda Martini (43) soeben eingetroffene Familien aus Tschetschenien in Empfang genommen. Essen ist nach Oldenburg, Bielefeld und Neuss der vierte Einsatzort des engagierten Deutsch-Syrers. Sorgen der einheimischen Bevölkerung vor dem anschwellenden Flüchtlingsstrom und damit auch vor Radau und Vermüllung, möglicherweise sogar vor Diebstahl, kennt er zur Genüge. Doch billige Schwarz-Weiß-Malerei, etwa die heikle Unterscheidung zwischen „guten“ Bürgerkriegs- und „bösen“ Armutsflüchtlingen, weigert er sich mitzumachen. Er sagt: „Die, die hier ankommen, sind Menschen.“
Hassan berichtet unterdessen von den Gräueln des Bürgerkriegs in seiner kurdischen Heimatstadt Qamishli nahe der türkisch-iranischen Grenze. Militärs und oppositionelle Milizen bombardierten sich dort gegenseitig, jetzt gebe es gar nichts mehr: kein Wasser, kein Essen, keine Ärzte. Sie, die Zivilisten, gerieten ständig zwischen die Fronten. „Mein Cousin ist von einer Panzergranate getroffen worden, sie haben ihn als Stück Kohle zurückgebracht.“ Ergriffen fügt er hinzu: „Die Narben auf meiner Brust, das sind Bajonettstiche.“ Anderen sei es in den Folterkammern noch schlimmer ergangen. „Denen haben sie den Kopf abgeschnitten.“
Auf dem Schulhof entwickelt sich derweil eine idyllische Szene. Flüchtlingskinder aus aller Herren Länder turnen ausgelassen auf den Spielgeräten -- und verstehen sich prima. Auch ohne Worte. „Ein Lächeln genügt“, freut sich Ridda Martini.