Die Brünings aus Katernberg vermieten seit zwei Jahren eine Wohnung an eine Familie aus Syrien. Wie aus den Mietern echte Freunde geworden sind.

An die erste Begegnung mit Dieter Brüning kann sich Hazem Abdulwahed noch gut erinnern: „Der Doktor war ein bisschen böse.“ Das ist zwei Jahre her – und der Beginn einer Freundschaft.

Tatsächlich war Dieter Brüning (69) an diesem Herbsttag im Jahr 2015 verärgert: Schon im Mai hatte der Arzt der Stadt eine große, renovierte Wohnung für eine Flüchtlingsfamilie angeboten, in dem Haus an der Hanielstraße in Katernberg, in dem er lebt, in dem auch seine Praxis ist. Die Stadt prüfte das Angebot langwierig, und als sie die Wohnung endlich annahm, fand sie wochenlang keine Mieter – dabei wurde Wohnraum für Flüchtlinge dringend gesucht. Diese bürokratische Schwerfälligkeit empörte damals viele hilfsbereite Vermieter.

Zuzug: Standortfaktoren sprechen für Essen

Dieter Brüning schrieb in dieser Stimmung ans Amt für Soziales und Wohnen, man solle die Sache vergessen. Just auf dem Weg zum Briefkasten traf der Arzt auf Hazem Abdulwahed, der mit einer Mitarbeiterin der Caritas gekommen war, um die Wohnung anzusehen. Obwohl Brüning nichts von dem Besichtigungstermin wusste, zeigte er die Wohnung gern. „Unsere jüngste Tochter lief mit Herrn Abdulwahed noch zur Viktoriaschule und zum Familienzentrum um die Ecke.“ Schließlich hat der Syrer vier Kinder – wie die Brünings.

Sie unterhielten sich auf Englisch und hatten „vom ersten Gespräch an einen super Eindruck von dem Mann“ ergänzt Brünings Ehefrau Gabriele (66). Dem Familienvater gefiel die Wohnung, er zog bald ein, konnte Frau und Kinder nach Deutschland holen. „Der Doktor und seine Frau haben uns von Anfang an mit Möbeln, Ämtern und Kontakten geholfen.“ Das hatte er bei seiner Ankunft in Magdeburg anders erlebt, da wurde er auf der Straße angeraunzt: „Was wollen Sie hier, gehen Sie zurück.“

Abdulwahed ging nicht zurück, sondern nach Essen: „Es hieß, in NRW seien die Chancen für Studium und Arbeit gut, und es gebe türkische und arabische Kultur.“ Das sind Standortfaktoren, die Essen einen innerdeutschen Zuzug bescheren, der die Stadt herausfordert. Für Abdulwahed ist Essen ein Glücksfall.

Aus Mietern sind Freunde geworden

Inzwischen hat der Mittdreißiger hier sein B1-Deutschzertifikat als Kursbester bestanden. „Da waren wir so stolz wie bei unseren Kindern“, sagt Gabriele Brüning. Längst sind Hazem Abdulwahed und seine Frau Hanaa Almasri mehr Freunde denn Mieter. „Sie bringen uns oft leckeres, liebevoll dekoriertes Essen.“ Zu Weihnachten und Ostern laden die Brünings zum Frühstück, vermitteln auch Brauchtum. Wenn Bassem (4), Layan (6), Amar (9) oder Abdulhade (11) Geburtstag haben, warten die Eltern mit der Feier, bis Dieter Brüning aus der Praxis kommt. „Die Kinder sind die Brücke!“ Wohlerzogen, herzlich, offen seien sie. „Neulich spielten die beiden Kleinen bei uns im Garten und unterhielten sich miteinander auf Deutsch.“

Ein Jahr hat es gedauert, bis Bassem und Layan einen Kita-Platz bekamen, und erst seit Mai 2017 besucht Hanaa Almasri einen Sprachkurs. Ihr Mann bereitet sich schon auf B2-Prüfung und Jobeinstieg vor. Sein Wirtschaftststudium aus Syrien wird hier als Bachelor anerkannt, er hat den Führerschein neu gemacht und ein halbes Jahr Praktikum bei Thyssen-Krupp: „Ich hab’ berufliche Erfahrungen gesammelt und musste viel sprechen.“ Flüssig kann er vom Krieg in Syrien, vom zerstörten Haus erzählen, von der Flucht und der Sorge um die Verwandten in Damaskus – und von der Hoffnung auf ein neues Leben in Essen.

Nach Krebsoperation: Großfamilie steht zusammen

Während ihr Mann die Elternabende besucht oder mit den Kindern Schwimmen geht, ist der Radius von Hanaa Almasri nicht nur sprachbedingt viel eingeschränkter. „Sie kann nicht einfach Bekannte treffen“, erzählt Gabriele Brüning. „Und während ich sie jederzeit besuchen kann, ruft mein Mann vorher an, weil sie erst ihr Kopftuch umbindet.“ Als der Arzt die junge Frau nach einem Essen der Familien zum Abschied in den Arm nahm, „zuckte sie zusammen wie bei einem Elektroschock“. Er werde das natürlich nie wieder tun, sei aber froh, dass sie ihm inzwischen die Hand gebe.

Seit 34 Jahren sitzen Einwanderer aus Polen, der Türkei oder Afghanistan in Brünings Wartezimmer. Er hat Mädchen begleitet, die ohne Kopftuch aufwuchsen und es eines Tages anlegten und ihm den Handschlag verweigerten. Er kennt junge Männer, die Frauen in Minirock als Schlampen bezeichnen. Katernberg ist das Zuhause seiner Familie, er erlebt die mitunter schmerzhaften Kapriolen der Integration hautnah.

Bei seinen Mietern aus Syrien sieht Brüning vor allem das Gelingen. Im vergangenen Jahr lag er nach einer Krebsoperation im Krankenhaus: „Da hat Hazem stundenlang an meinem Bett gewacht.“ Hazem Abdulwahed nickt: „Das macht man doch in der Familie.“

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