Duisburg. Vier Jahre nach der Duisburger Loveparade kritisieren Betroffene die schleppende juristische Aufarbeitung der Tragödie. Weil viele Opfer nicht länger warten wollen, verklagen sie Stadt, Land und Veranstalter. Wegen fehlender seelischer Unterstützung hätten zudem sechs Menschen Selbstmord begangen.
Für Jörn Teich und seine Mitstreiter ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Vier Jahre nach der Loveparade-Katastrophe kämpfe ein Teil der Betroffenen noch immer um Entschädigungen und Unterstützung. Viele Überlebende hätten nach wie vor keinen Cent erhalten und müssten sich auch noch gegen Vorwürfe verteidigen, Betrüger und Simulanten zu sein.
Mittlerweile habe die Katastrophe vom 24. Juli 2010 sogar 27 Menschenleben gefordert, so Teich, Vorsitzender des Vereins LoPa 2010. Wenigstens sechs Menschen hätten das, was sie bei der Massenpanik erlebt haben, seelisch nicht verkraftet und sich das Leben genommen, so die lange Liste der Vorwürfe. „Seit dem 24. Juli 2010 kämpfen wir um Hilfe – und wir halten uns nur noch gegenseitig über Wasser, damit wir nicht untergehen“, erklärte Teich während der Pressekonferenz, zu der der Betroffenen-Verein am Freitagabend geladen hatte.
Sechs Tage vor dem vierten Jahrestag wollten Teich und weitere Opfer der Loveparade-Tragödie aufzeigen, wie schmerzhaft jene vier Jahre seit der Massenpanik für die Betroffenen waren. „In Deutschland kümmern wir uns nicht um unseren eigenen Katastrophenopfer, das ist eine politische Schande“, klagte Teich. Viele Betroffene fühlten sich völlig allein, ja im Stich gelassen. „Die Ignoranz von mancher Seite ist das Schlimmste.“ Die Stadt Duisburg klammerte Teich ausdrücklich aus. Zutiefst dankbar sei man auch den Bürgern der Stadt Duisburg, die im Februar 2012 Oberbürgermeister Adolf Sauerland abgewählt haben.
Anwältin Schönhof hat schon Afghanistan-Veteranen zu ihrem Recht verholfen
Einen halben Tag zuvor hatte die Bochumer Anwältin Bärbel Schönhof die ersten von bislang 30 Zivilklagen auf den Weg gebracht, um die mutmaßlichen Verantwortlichen der Katastrophe auch finanziell zur Rechenschaft zu ziehen. "Dies wurde notwendig, da die Betroffenen seit über vier Jahren auf die Regulierung ihrer Schadensersatzansprüche warten", so Teich weiter.
LoveparadeIm Namen von 30 Betroffenen verklagt sie nun die Stadt Duisburg, das Land NRW als Dienstherr der Polizei, die Firma Lopavent als Veranstalter sowie deren Geschäftsführer Rainer Schaller als Privatperson. "Sie alle haben die Leute sehenden Auges in die Katastrophe gehen lassen", sagt die auf Sozialrecht spezialisierte Juristin, die auch schon traumatisierte Bundeswehr-Soldaten nach der Rückkehr von Einsätzen in Afghanistan vertreten hat. Fast alle erfolgreich.
Für ihre Mandaten, die bei der Loveparade verletzt und/oder traumatisiert wurden, will sie pro Betroffenem bis zu 300.000 Euro erstreiten. Addiert also eine Summe in Millionenhöhe. „Meine Mandanten brauchen dieses Geld, um zwingend nötige Therapien zu bezahlen oder um Vertreter für ihre Firmen zu beschäftigen, damit sie selbst überhaupt in Therapie gehen können. Viele von ihnen wurden wirtschaftlich bis zum Existenzruin getrieben“, erklärte Schönhof. Sammelklagen soll es keine geben.
Polizei hätte bei Loveparade rechtzeitig eingreifen müssen
Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen gegen Polizeibeamte, wie den ehemaligen Duisburger Polizeidirektor Kuno Simon, eingestellt hat, sieht Schönhof insbesondere auf Seiten der Polizei eine Mitverantwortung für den Verlauf der Katastrophe am 24. Juli 2010. Unabhängig von den Sicherheitskonzepten der Veranstalter hätte die Polizei eine gesonderte Pflicht zur Gefahrenabwehr gehabt und hätte daher rechtzeitig eingreifen können und müssen.
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Deshalb stellt die Bochumer Juristin auch das Land NRW unter Anklage. Als Zeugen will die Anwältin den derzeitigen NRW-Innenminister Ralf Jäger und seinen Vorgänger Ingo Wolf vorladen. Außerdem sollen der ehemalige Duisburger Polizeipräsident Rolf Cebin und die ehemaligen Oberbürgermeister aus Essen und Dortmund sowie OB Ottilie Scholz aus Bochum aussagen.
Betroffene fordern Gründung einer Opfer-Stiftung
Öffentliche Gedenkfeier am Loveparade-Mahnmal
Auch anlässlich des vierten Jahrestages der Loveparade-Katastrophe am nächsten Donnerstag, 24. Juli, wird es in Duisburg wieder einige Gedenkfeiern geben.
Los geht es bereits am Vorabend (Mittwoch), wenn der Verein „LoPa 2010“ ab 21 Uhr zur „Nacht der 1000 Kerzen“ einlädt. Die Gedenkstätte im Karl-Lehr-Tunnel ist dann für alle, die mittrauern wollen, frei zugänglich. Die öffentliche Gedenkfeier tags darauf findet am Mahnmal statt, das am östlichen Tunnelausgang in Neudorf auf einer Rasenfläche steht. Sie beginnt um 17.45 Uhr. Neben Ansprachen von OB Sören Link und Pfarrer Jürgen Widera sollen auch Betroffene zu Wort kommen. Luftballons sollen gen Himmel steigen. Neben dem Gospelchor Duisburg wird auch die Hardrock-Band Axxis auftreten und ihr Lied „21 Crosses“ spielen, das sie in Gedenken an die 21 Todesopfer der Katastrophe geschrieben hatte.
Zuvor werden zwischen 15 und 17.30 Uhr die Hinterbliebenen sowie die Verletzten und Traumatisierten nacheinander an der Gedenkstätte im Tunnel trauern – allein! Für die Öffentlichkeit ist der Tunnel in dieser Phase gesperrt.
Apropos Sperre: Bereits am Mittwoch ab 20 Uhr bis tags darauf um die gleiche Zeit ist der Karl-Lehr-Tunnel in beide Richtungen für den Kraftfahrzeugverkehr gesperrt. Fußgänger und Radfahrer dürfen passieren – außer während der Hinterbliebenen-Gedenkfeier am Donnerstag.
Weiterer Kritikpunkt: Die Gedenkstätte im Karl-Lehr-Tunnel sei auch zwei Jahre nach ihrer Eröffnung „nur ein Provisorium, eine Baustelle, in der nichts an die Katastrophe erinnern würde, wenn wir nichts aufgestellt hätten.“ Außerdem sei die Gedenkstätte nicht nur zweimal, sondern ungezählte Male das Ziel von Vandalismus und Zerstörung geworden.
Klar sei: So könne es nicht weitergehen. Es müsse endlich eine Stiftung her, um eine adäquate Nachsorge aller Betroffenen finanziell abzusichern. Und alle Beklagten – also auch jene, die im Strafverfahren von der Staatsanwaltschaft nicht als solche benannt wurden wie Schaller oder Ex-OB Sauerland, aber auch die Polizei – sollen sich endlich ihrer Verantwortung stellen. „Denn wenn es keine Gerechtigkeit gibt, können wir auch nicht gesund werden“, so Teich.
Chronik einer Katastrophe