Bottrop. Die junge Bottroperin Hira sagt in der Kita kein Wort. Ein Fall von vielen für die Frühförderung. Heilpädagoginnen: Die Nachfrage ist gestiegen.

Hira war ein ganz normales Baby. Auffällig wurde das Mädchen erst, als es in den Kindergarten kam. Anders als daheim, mochte es dort einfach nicht reden. Nicht mit Erwachsenen, nicht mit anderen Kindern, erzählt ihre Mutter Ayse Ibis. Hira schwieg. Ihre Mutter suchte sich Hilfe – und fand diese in der Frühförderung. Mit ihrem Beispiel möchte sie anderen Eltern zeigen, wie wertvoll diese Unterstützung im noch ganz jungen Alter ist.

Denn Hiras Schweigen, es war nicht einfach ein Zeichen von Schüchternheit; nichts, was sich einfach so verwächst. „Wir erhielten die Diagnose selektiver Mutismus“, sagt Ayse Ibis. Sprechen wollte bzw. konnte Hira nur mit ausgewählten Leuten.

Früher schwieg Hira aus Bottrop – heute redet sie „wie ein Wasserfall“

Unterstützt wurde Hira schließlich von Anke Sattelberger von der Mobilen heilpädagogischen Frühförderung Bottrop. Zunächst daheim, später in Runden mit ausgesuchten Kita-Kindern. „Man hat gemerkt, dass Frau Sattelberger Hira selbstbewusst und sicher gemacht hat.“ Jetzt, mit acht Jahren, rede ihre Tochter „wie ein Wasserfall“.

Monika Genrich (li.) und Anke Sattelberger von der Mobilen heilpädagogischen Frühförderung in Bottrop beobachten einen gestiegenen Bedarf.
Monika Genrich (li.) und Anke Sattelberger von der Mobilen heilpädagogischen Frühförderung in Bottrop beobachten einen gestiegenen Bedarf. © Nina Stratmann

Seit zehn Jahren sind Anke Sattelberger und Monika Genrich mit ihrer Mobilen heilpädagogischen Frühförderung am Start, die inzwischen auch ambulante Angebote macht. Seither beobachten die beiden Heilpädagoginnen, die Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, Verhaltensauffälligkeiten oder (in geringerer Anzahl) mit Behinderungen professionell unterstützen, eine gestiegene Nachfrage.

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Die Hochzeit der Corona-Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen spiele da sicher eine Rolle, sagt Anke Sattelberger – aber das ja erst seit kurzem. Sicher seien zudem Kindergärten und Ärzte heute stärker sensibilisiert. Aber Sattelberger stellt auch fest: „Die Gesellschaft hat sich so verändert. Das Geld ist weniger geworden. Es gibt in den Familien andere Sorgen; sie müssen mehr arbeiten gehen.“ Kinder würden da vielleicht eher mit Medien ruhig gestellt, als dass man beispielsweise mit ihnen in den Wald ginge. Das alles führe dazu, „dass manche Bereiche, die man als Mensch hat, nicht mehr so viel genutzt werden“. Sprich: Dass die Anforderungen, denen sich Kinder stellen müssen, einseitig werden.

Bottroper Heilpädagoginnen bestätigen: Kinder bewegen sich zu wenig

Genrich ergänzt: „Es heißt immer, dass Kinder sich heute zu wenig bewegen. Das können wir bestätigen.“ Bewegung aber fördert auch die kognitive Entwicklung. Die Sprache zum Beispiel lernen Kinder durch Handeln, durch das Beteiligen mehrerer Sinne – nicht übers Fernsehgucken, verdeutlichen die Heilpädagoginnen.

Unter anderem bei den Sprachauffälligkeiten „schon bei den ganz Kleinen“ verzeichnen sie in den vergangenen zehn Jahren Zuwächse – und das nicht nur bei den Kindern, die bilingual aufwachsen, weil sie einen Migrationshintergrund haben. Deren Anteil an den behandelten Kindern sei im Übrigen gestiegen.

Formal hat sich im Laufe der Jahre ebenfalls etwas geändert für die Frühförderung, die Kinder von der Geburt an bis zu ihrem sechsten Lebensjahr im Fokus hat. „Kostenträger ist nicht mehr die Stadt Bottrop, sondern der Landschaftsverband“, erläutert Monika Genrich. Nach zweieinhalbjähriger Übergangszeit sei diese Umstellung bei der Finanzierung seit diesem August nun komplett abgeschlossen.

Unterstützung der Kinder erfolgt gleich in einem ganzen Paket

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Nicht mehr das städtische Gesundheitsamt, sondern eine Pädagogin vom Landschaftsverband übernehme die medizinische Überprüfung nach Antragstellung. Aber die Erfahrungen damit seien bislang gute: „Es wird zum Wohle der Familien und des Kindes gehandelt“, urteilt Anke Sattelberger.

Zudem werde im Sinne von Teilhabe am gesellschaftlichen Leben breit geschaut, wie das Kind und die Familie unterstützt werden könnten. Nicht nur mit heilpädagogischer Frühförderung, sondern im Paket mit Ergotherapie, Krankengymnastik, Beratungsangeboten für die Eltern. „Es wird individuell geschaut, wo das Kind steht – und wo es hinkommen soll.“ Dabei alle Beteiligten einzubinden, ist für die Heilpädagoginnen selbstverständlich.

Aktuell sei die Nachfrage so groß, dass sich eine kleine Warteliste aufbaue. Gerne würden die beiden Chefinnen daher ihr zehnköpfiges Team vergrößern. Allein: Auch in diesem Bereich sind Fachkräfte schwer zu finden: „Wir suchen dringend Mitarbeiter mit Berufserfahrung!“