Bottrop. Julia kam vor acht Jahren mit 480 Gramm auf die Welt. Ihre Eltern und die von vier weiteren Frühchen erzählen, wie es den Kindern heute geht.
Familie Große-Sender hat drei Töchter. Die Zwillinge Frida und Lotta sind 14, ihre große Schwester Mia ist 17 Jahre alt. Sie wirken fröhlich und selbstbewusst. Drei ganz normale Teenager eben. Nichts deutet heute mehr darauf hin, dass sie einen mehr als schweren Start ins Leben hatten. Denn alle drei kamen zu früh zur Welt – Lottas Geburtsgewicht betrug gerade einmal 650 Gramm, Zwillingsschwester Frida brachte es auf 730 Gramm. Und Mia, drei Jahre zuvor, wog bei ihrer Geburt in der 30. Schwangerschaftswoche 1400 Gramm.
Mia, Lotta und Frida: Drei Frühchen in einer Familie
Immerhin. Und dennoch viel zu wenig. Wenn Vater Thomas Große-Sender die Geburten seiner Töchter miteinander vergleicht, erinnert er sich nur allzu gut an die bangen Stunden und Wochen damals. „Natürlich ist das erste Frühchen ein starker Einschnitt“, erzählt er. „Aber die Zwillingsgeburt in der 25. Schwangerschaftswoche, die sich so plötzlich angekündigt hat und mit gänzlich ungewissem Ausgang, die war schon heftig.“
Hatten sie je befürchtet, dass eine ihrer Töchter es nicht schaffen würde? „Davon sind wir nie ausgegangen“, sagt Mutter Silke Große-Sender. „Wir hatten Vertrauen in die Bottroper Kinderklinik, in den damaligen Chefarzt Dr. Martin Günther und in Sezgin Ata. Wir haben uns mit der Frage nicht beschäftigen wollen und müssen“, ergänzt ihr Mann. Zumal: Auch als Eltern sei man auf der Station, auf der die Frühgeborenen in Brutkästen versorgt werden, umsorgt worden. „Die Pflegekräfte müssen sich nicht nur um die Kinder, sondern genauso um die Eltern bemühen“, meint Thomas Große-Sender – heute mit einem Lächeln.
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Als die kleinen Zwillinge damals aus dem Krankenhaus entlassen wurden, mussten ihre Vitalwerte noch ein halbes Jahr lang per Monitor kontrolliert werden. „Darüber hinaus haben sie das große Glück, keine weiteren Einschränkungen zu haben“, so ihr Vater. Mia wiederum habe anfangs etwas Krankengymnastik gebraucht.
Ihr Beispiel soll anderen Familien mit zu früh geborenen Kindern Mut machen, daher sind sie am Weltfrühgeborenentag zusammen mit Familie Brinkhoff und Familie Heim zu einem Treffen ins Marienhospital Bottrop gekommen. Dort, auf der K2, also der Neugeborenen-Intensivstation, haben die Kinder ihre ersten, so schwierigen Schritte ins Leben gemacht. Und hatten dabei sehr unterschiedlich zu kämpfen.
Julia: Geboren mit 480 Gramm
Julia ist heute acht Jahre alt, ausgelassen tobt sie mit den Luftballons herum, die das Team der Neonatologie rund um Kinderklinik-Chefarzt Dr. Mirco Kuhnigk extra für die einstigen Frühchen aufgehängt hat. „Sie ist am 7. Oktober 2014 geboren – 15 Wochen zu früh“, erzählt Mama Daniela Brinkhoff. Bei 27 Zentimetern Körpergröße wog Julia nur 480 Gramm – und gehörte damit zu den kleinsten Kindern überhaupt, die im MHB behandelt werden. „Eine Handvoll Leben, habe ich immer gesagt“, meint die Bottroperin.
Als Daniela Brinkhoff ihre Tochter nach der Geburt zum ersten Mal sah – im Inkubator, weil Frühchen ihre Körpertemperatur allein noch nicht halten können, und angeschlossen an Schläuche – war sie zunächst vor allem erleichtert: Im Mutterleib war Julia nicht mehr gut versorgt gewesen und musste per Kaiserschnitt geholt werde – jetzt wusste sie, ihr Kind ist in guten Händen.
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Doch natürlich waren da noch lange nicht alle Sorgen ausgestanden. Das fing schon damit an, dass man gerade am Anfang nicht einfach dem ureigenen Bedürfnis folgen kann, das Kind einfach hochzuheben und auf den Arm zu nehmen. Julias Lunge war unterentwickelt, so dass sie beatmet werden musste. Nach drei Wochen musste der Ductus (die Verbindung zwischen Aorta und Lungenarterie) operativ verschlossen werden. „Es gab viele Momente, in denen wir nicht wussten: Schafft sie es oder nicht“, erinnert sich Daniela Brinkhoff zusammen mit Ehemann Christian zurück.
Julia, umsorgt von Eltern und Klinik-Team, schaffte es. Nach dreieinhalb Monaten, „zum errechneten Geburtstermin am 21. Januar“, ging’s nach Hause. 2740 Gramm wog Julia da – immer noch ein Leichtgewicht. Und Sauerstoff brauchte sie auch noch eine Weile, das Gerät taufte die Familie auf den Namen „Elli“, „es war wie ein großes Fass, mit 50 Metern Schlauch“.
Auch heute wirkt Julia zart. Durch die extreme Frühgeburt ist ihre Lunge stark in Mitleidenschaft gezogen – „früher waren wir im Winter mindestens zweimal im Jahr im Krankenhaus, und auch heute hat Julia noch große Probleme, wenn ihr eine Erkältung auf die Bronchien schlägt.“ Zudem ist Julias Sehkraft eingeschränkt; sie besucht eine Schule mit dem Förderschwerpunkt Sehen in Gelsenkirchen.
„Von Anfang an hatten wir vier Therapien in der Woche, dazu gehörte Physiotherapie, früher die Frühförderung und eine spezielle Seh-Frühförderung“, berichtet Daniela Brinkhoff. „Jetzt ist es so, dass Julia weiter zur Physiotherapie geht.“ In den Wintermonaten komme ein spezielles Atemtraining dazu. „Privat haben wir das therapeutische Reiten angefangen“, ergänzt Julias Mutter. Leider keine Therapie, die von Krankenkassen finanziert wird – obwohl sie Julia so gut tue.
Leonard: Auf die Welt geholt in der 27. Schwangerschaftswoche
„Unsere Kinder sind etwas Besonderes“, findet Daniela Brinkhoff. Und es ist, gerade aufgrund der Corona-Jahre, auch etwas Besonders, sich mit anderen Frühchen-Familien austauschen zu können, meint Stephanie Heim. Ihr Leonard ist das jüngste Ex-Frühchen in der Runde, er wird bald zwei Jahre.
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Auch Leonard war im Bauch seiner Mutter, die unter hohem Blutdruck und Schwangerschaftsvergiftung litt, dramatisch unterversorgt. „Ich habe die Lungenreife gespritzt bekommen und noch zwei Tage geschafft“, erzählt Stephanie Heim. Dann wurde Leonard in der 27. Woche auf die Welt geholt. „Der Arzt hat gesagt, es geht um Leben und Tod.“ Leonards Mini-Maße zu dem Zeitpunkt: 34 Zentimeter, 790 Gramm. Dennoch: Wie Daniela Brinkhoff, so war auch Stephanie Heim erstmal erleichtert, dass ihr Sohn nun versorgt werden konnte.
„Alles ist wie im Film abgelaufen. Ich war überglücklich, dass er da war. Gleichzeitig hatte ich super viel Angst um ihn.“ Doch die Ärzte hätten ihr und ihrem Mann Nikolas immer versichert: „Er ist gut drauf, er muss nur wachsen.“
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77 Tage, die Mutter weiß es genau, musste Frühchen Leonard noch im Krankenhaus bleiben, musste noch beatmet werden, zudem waren in der Zeit zwei Leistenbruch-OPs notwendig. „Zwischendurch hatte Leonard auch noch Wasser in der Lunge.“ Heimmonitor und Medikamente begleiteten das Kind, als es nach Hause kam.
Doch entwickelt hat sich bis jetzt alles gut: „Wir müssen zur Physiotherapie gehen – sonst aber ist nichts.“ Der nächsten großen Frühchen-Untersuchung im Januar sieht die Familie, zu der auch noch der große Bruder Johannes (fünf) gehört, daher recht gelassen entgegen.
Obwohl Stephanie Heim schon sagt, dass sie sich viele Sorgen um Leonards Entwicklung gemacht hat. „Ich habe gedacht: Hoffentlich kann er gut sehen; hoffentlich lernt er gut laufen… Ich bin immer froh, wenn er einen Meilenstein geschafft hat.“
Hinweis: Dieser Text erschien erstmalig im November 2022