Bottrop. Seit 40 Jahren unterstützt die Bottroper Frühförderung entwicklungsverzögerte und behinderte Kinder. So erleben Familien diese wertvolle Hilfe.

„Wir haben ein Piratenschiff gebaut“ – stolz präsentiert John die Konstruktion aus Wäscheklammern und Tüchern, angebracht auf einer wackeligen Schaukel. Was für den Fünfjährigen ein tolles Spiel und ein großes Erfolgserlebnis ist, ist gleichzeitig auch eine besondere Form der Förderung. Seit 40 Jahren finden Familien mit behinderten oder entwicklungsverzögerten Kindern in Bottrop Unterstützung bei der Frühförderung.

Dass John eigentlich schüchtern und zurückhaltend ist – beim kurzen Blick ins Therapiezimmer bekommt man einen ganz anderen Eindruck. Der Erfolg beflügelt den Jungen. Gleichzeitig seien beim Bau dieses Schiffs auf der beweglichen Schaukel auch Grob- und Feinmotorik gefördert worden, erläutert Heilpädagogin Christina Kückelhahn. Sie betreut John an diesem Vormittag, hat mit ihm schon die Kugelbahn aufgebaut, denn es gehe auch darum, strukturiertes Vorgehen zu lernen.

Frühförderung kann schon kurz nach der Geburt einsetzen

Johns Mutter Anna Delopst ist froh über die Unterstützung, die sie hier erhält. Für John seien die regelmäßigen Stunden bei der Frühförderung unglaublich wichtig. „Hier wird der Grundstein für seine Entwicklung gelegt“, sagt sie. Schon bei ihrer Tochter habe sie bemerkt, wie viel diese Förderung ausmache. Die ist heute 15 Jahre alt. „Und hätte es die Förderung nicht gegeben, wäre sie nicht so weit gekommen, wie sie jetzt ist.“

Anna Delopst mit ihrem Sohn John. Über die Arbeit der Frühförderung sagt sie, dass hier der Grundstein für so vieles im späteren Leben gelegt werde.
Anna Delopst mit ihrem Sohn John. Über die Arbeit der Frühförderung sagt sie, dass hier der Grundstein für so vieles im späteren Leben gelegt werde. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Rein theoretisch kann die Frühförderung schon kurz nach der Geburt beginnen und endet dann mit dem Schulbesuch. Voraussetzung ist eine ärztliche Verordnung, sagt Karin Kittner, die Leiterin der Frühförderung in Bottrop. Allerdings: In den seltensten Fällen würden die Kinder hier tatsächlich von der Geburt bis zum Schulanfang betreut. Im Schnitt blieben sie zwei Jahre. Neben der motorischen Förderung wird auch Sprachtherapie angeboten.

Bottroper als erster Schüler in NRW mit Down-Syndrom auf einer Gesamtschule

Wie viel diese frühe Förderung ausmacht, das weiß auch Marion Robens. Ihr Sohn Florian kam mit Down-Syndrom auf die Welt, eine Ärztin habe ihr dann die Frühförderung empfohlen. Florian sei zu dem Zeitpunkt etwa vier Wochen alt gewesen, habe keine Körperspannung gehabt, „der lag nur da wie ein Frosch“. Heute ist Florian 28 Jahre alt, war der erste Junge mit Down-Syndrom, der in NRW eine Gesamtschule besucht hat. „Das ist ganz klar auch ein Erfolg der Frühförderung“, sagt Marion Robens.

Karl-Heinz Bugdoll, Gründer und Vorstandsmitglied der Frühförderung, Leiterin Karin Kittner (M.) und Marion Robens, ebenfalls Vorstandsmitglied freuen sich über das 40-jährige Bestehen der Frühförderung Bottrop.
Karl-Heinz Bugdoll, Gründer und Vorstandsmitglied der Frühförderung, Leiterin Karin Kittner (M.) und Marion Robens, ebenfalls Vorstandsmitglied freuen sich über das 40-jährige Bestehen der Frühförderung Bottrop. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Zumal nicht nur Florian profitiert habe, sondern auch die Eltern, die ganze Familie. „Die Therapie fand zunächst bei uns zu Hause statt und es gab eben auch ganz viele nützliche Tipps für den Alltag“, erinnert sie sich. So etwas sei auch wahnsinnig viel Wert in einer Situation, in der das gesamte Familienleben auf den Kopf gestellt wird. „Es gibt da auch viel Hilfe zur Selbsthilfe“, beschreibt sie die Arbeit mit Karin Kittner vor fast 30 Jahren. Dazu sei auch die Unterstützung etwa bei der Suche nach der richtigen Kita gekommen.

260 Kinder betreut die Bottroper Frühförderung in einer Woche

Aber auch sonst habe die Frühförderung Florian gut getan. Später seien sie gemeinsam auch mit dem Bus zur Therapie in die Stadt gefahren. „Das waren Tage, da hat Flo sich richtig drauf gefreut“, erinnert sich die Mutter. Er sei immer selbstsicherer geworden, habe dann auch gesprochen, all diese Erfolge seien mit zurückzuführen auf die Frühförderung.

Grob- und Feinmotorik muss John (5) trainieren, hier an einer Kugelbahn. Im Hintergrund: Heilpädagogin Christina Kückelhahn.
Grob- und Feinmotorik muss John (5) trainieren, hier an einer Kugelbahn. Im Hintergrund: Heilpädagogin Christina Kückelhahn. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Rund 260 Kinder betreuen Karin Kittner und ihre neun Kolleginnen in der Woche. Zu Beginn stehe immer eine Erstdiagnose. „Das Gros der Kinder, die wir diagnostizieren, ist drei Jahre alt“, beschreibt Karin Kittner. Ärzten, Erziehern oder auch den Eltern selbst falle auf, dass möglicherweise irgendetwas mit der Entwicklung des Kindes nicht stimme. Der überwiegende Teil der Kinder, die die Frühförderung betreut, seien heute entwicklungsverzögert.

Man fühlt sich bei der Frühförderung wie in einer Familie

Frühförderung, das sei aber auch eine besondere Gemeinschaft, sagen die beiden Mütter. „Bei uns hat sich eine Gruppe gegründet. Wir treffen uns noch heute und es sind nicht nur Familien, die Kinder mit dem Down-Syndrom haben“, sagt Marion Robens. Sie selbst engagiert sich nun auch schon seit vielen Jahren im Vorstand des Vereins. Anna Delopst lobt die Atmosphäre, man fühle sich hier wie das Mitglied einer Familie. Das gilt auch für John, der seinen wöchentlichen Besuch hier sichtlich genießt. Und was für die einen Therapie ist, ist für ihn Spaß.

Karl-Heinz Bugdoll gehört zu den Gründern der Frühförderung. Gemeinsam mit anderen hat er den Verein, der die Einrichtung auch heute noch trägt, aus der Taufe gehoben. Es war die persönliche Betroffenheit, die bei dem ehemaligen Lehrer den Ausschlag gab. „Wir haben eine schwerst mehrfach behinderte Tochter.“ Doch zu der Zeit habe es eben die Frühförderung in Bottrop noch nicht gegeben. Stattdessen habe die Familie eine tolle Krankengymnastin in Essen gefunden, die viel geholfen hat. Und damit es anderen Eltern eben besser geht, sie vor Ort Hilfe finden, haben sich Bugdoll und seine Mitstreiter vor 40 Jahren auf den Weg gemacht.

Noch immer wird die Bottroper Frühförderung von einem Verein getragen

Hier liegt auch der Grundstein für eine Besonderheit, die die Bottroper Frühförderung in ganz NRW auszeichnet. Denn während die meisten Institutionen dieser Art angebunden sind an Wohlfahrtsverbände und große Träger, so ist die Bottroper Einrichtung auch 40 Jahr später noch ein Verein, getragen von den Mitgliedern. Doch zum Glück habe man über all die Jahre Fürsprecher auch in der Kommunalpolitik gehabt, sagt Bugdoll.

Angefangen hat alles als Verein in den Räumen einer ehemaligen Friseurschule an der Bergstraße, damals mit zwei Mitarbeiterinnen und rund 20 Kindern. Inzwischen sitzt die Frühförderung in ihren eigenen vier Wänden an der Pestalozzistraße – und weil der Bedarf so groß ist, ist auch da der Platz eng. Deshalb nutzt der Verein auch Räume an der Osterfelder Straße. Dazu kommen 13 Mitarbeiterinnen. Und für die hat der Vorstand ein dickes Lob parat. Denn: „So eine Arbeit wie hier, die muss mit Herzblut gemacht werden. Das ist nicht nur ein Job.

Im Corona-Lockdown für viele Kinder und Familien der einzige Kontakt

Zwar werden die Kosten der Therapien abgerechnet – seit einiger Zeit mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe – trotzdem ist der Verein immer auf der Suche nach Unterstützern, die ihm auch finanziell unter die Arme greifen. Denn für besondere Anschaffungen sei man auf diese Spenden angewiesen, betont Karl-Heinz-Bugdoll, der auch heute noch dem Vorstand angehört, gemeinsam mit Marion Robens, Maria Kolkenbrock und Hans-Jürgen Lüttig.

Neben den Therapiestunden vor Ort sei man häufig auch aufsuchend tätig, sagt Karin Kittner. Das bedeutet, die Mitarbeiterinnen besuchen die Familien in deren eigenen vier Wänden. Zuletzt in der Corona-Krise durfte das Therapie-Angebot weiter laufen, selbstverständlich mit entsprechendem Hygienekonzept. „Doch während dieser Zeit waren wir für viele Familien und Kinder der einzige Kontakt“, berichtet Karin Kittner. Und schon jetzt gebe es viele Anmeldungen und Nachfragen, sagt sie mit Blick auf die Warteliste. Gemeinsam hoffen nun alle, dass man zumindest das Fest zum Jubiläum im kommenden Jahr nachholen kann.

Spendenkonto

Die Frühförderung in Bottrop ist immer auch auf Spenden angewiesen – gerade für besondere Anschaffungen. Das Spendenkonto bei der Sparkasse Bottrop, IBAN: DE29 4245 1220 0000 0309 99.

Weitere Informationen zur Frühförderung gibt es auch im Internet unter: www.fruehfoerderung-bottrop.de