Bottrop. 80 Kinder warten auf einen der zwölf Plätze in der Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bottrop. Die Corona-Folgen sind alarmierend.
Die Warteliste für die zwölf Plätze der LWL-Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bottrop ist lang; zu lang. Mehr als 80 Kinder stehen darauf – „und es ist so, dass es bei allen brennt“, sagt die ärztliche Leiterin Dr. Julia Wagener. Die Folgen von zwei Jahren Corona-Pandemie samt Schulschließungen und sozialer Isolation haben die Lage verschärft: „Wir merken, dass Auffälligkeiten, die schon vorher da waren, sich verstärkt haben und häufiger geworden sind.“ Wagener fordert mit Blick auf die Politik, dass für die seelische Gesundheit der Jüngsten nun deutlich mehr getan werden muss.
Die Kinder- und Jugendpsychiaterin beobachtet in den unterschiedlichen Altersgruppe jeweils andere Auffälligkeiten. „Im Grundschulalter sind es eher expansive Störungen, wie Aggressivität, Unruhe, Schwierigkeiten im Sozialverhalten, Schwierigkeiten, überhaupt in der Schule mitzukommen. Und Überforderungssituationen gibt es natürlich auch“, zählt Wagener auf.
Dann gebe es die Gruppe, für die während der Pandemie der Wechsel von der Grund- zur weiterführenden Schule anstand. Sie konnten aufgrund des Lockdowns nicht vernünftig in der neuen Schule ankommen, die Mitschüler nicht richtig kennenlernen. Was oftmals zu emotionalen Belastungen führt, zu Unsicherheiten, Ängsten und Rückzug.
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Junge Leute ab 13 Jahren aufwärts, bis in die Oberstufe hinein, fallen durch Depressionen auf, durch „Ängste aller Art, auch soziale“, ziehen sich vielfach zurück. „Die schulischen und Alltagsanforderungen sind ja trotz Corona-Krise die gleichen geblieben. Die Kinder und Jugendlichen müssen funktionieren wie kleine Maschinen.“ Gerade in der Oberstufe wüssten viele nicht, wie sie das schaffen sollen. „Der Druck ist immens“, beobachtet die Ärztin, die selbst zwei Kinder hat.
Fachärztin: Der Medienkonsum ist während der Pandemie enorm angestiegen
Ängste machten ein wenig mehr den Mädchen zu schaffen, während bei Jungs vermehrt die Mediensucht zutage tritt. „Der Medienkonsum ist während der Pandemie enorm angestiegen, viele haben sich sehr zurückgezogen in die Computerspielwelt. Das sieht man auch an den körperlichen Untersuchungen, dass die Kinder eine schlechte Körperhaltung haben, wenig Körperspannung und Übergewicht.“
Im Bereich der Schulvermeider finden sich vor allem sozial ängstliche Kinder. „Diese Ängste haben sich verstärkt, so dass es für sie noch mehr Schwierigkeiten gibt, in die Schule zu gehen.“ Schulvermeidendes Verhalten werde häufig in den Phasen verfestigt, in denen Schulen geschlossen sind. Das gilt schon für die Ferien – wie erst recht für pandemiebedingte Schulschließungen, erläutert Dr. Julia Wagener.
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Wer den Unterrichtsbesuch verweigert, wer aufgrund seines den Rahmen sprengenden Sozialverhaltens in der Schule als nicht mehr tragbar gilt, wer wegen Depressionen sein Leben nicht bewältigen kann und wer überhaupt sein Kinder- und Jugendleben einfach nicht mehr zu führen in der Lage ist – kann eigentlich nicht lange auf einen Platz in der Tagesklinik warten. „Wir versuchen natürlich, das in unserer Ambulanz abzufangen“, so Wagener. „Aber auch hier ist das Personal coronabedingt zeitweise knapp gewesen.“ Grundsätzlich findet die Fachärztin es „sehr belastend, dass wir nicht allen Kindern sofort helfen können“. Schließlich sei die weitere Entwicklung der jungen Menschen gefährdet.
Krieg in der Ukraine ist zusätzliche Belastung für ängstliche Kinder
Davon abgesehen seien durch die Schulschließungen mögliche Sucht- und Gewaltprobleme in den Familien unter dem Radar geblieben. Und nun komme der Krieg in der Ukraine noch oben drauf – eine zusätzliche Belastung, gerade für ängstliche Kinder.
Wageners Fazit: „Meiner Meinung nach war und ist die Situation für die Kinder und Jugendlichen am allerschwersten. Sie sind am meisten hinten runtergefallen – und tun es immer noch.“ Nicht nur, dass zum Beispiel Lehrpläne ihrem Eindruck nach nicht angepasst worden seien. „Es müsste dringend etwas erfolgen, so dass in den Schulen auch auf die anderen Themen geguckt wird, die die Kinder haben.“ Schulen sind schließlich nicht nur Lernorte, sondern auch soziale Begegnungsstätten. Wagener würde sich wünschen, dass all diese Problemlagen jetzt wirklich gesehen werden „und auf der politischen Ebene gehandelt wird“.
Forderung: Freizeitangebote ausbauen
„Freizeitangebote, wie zum Beispiel Jugendzentren, müssten ausgebaut werden, ebenfalls mit geschultem Personal.“ Auf dass die Kinder und Jugendlichen gerade auch aus sozial schwächeren Familien kostenlose Anlaufstellen haben, die Halt und Struktur geben können.
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„Der Bedarf in Bottrop an kinder- und jugendpsychiatrischen Plätzen ist sowieso groß. Die Zunahme an Nachfragen und die Brisanz jetzt sind aber neu.“Klar koste der Ausbau der Hilfsangebote Geld. Aber: „Das Geld muss in die Hand genommen werden“, sagt Dr. Julia Wagener bestimmt.
Drei Monate dauert der Aufenthalt
Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis 18 Jahren aus Bottrop und Umgebung werden in der Tagesklinik des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) behandelt und erleben einen wohl strukturierten Tagesablauf. Sie kommen montags bis freitags um 8 Uhr an, es wird gemeinsam gefrühstückt, dann beginnt – in enger Abstimmung mit der jeweiligen Schule – der Unterricht. Mittags wird gemeinsam gegessen, und gegen 16 Uhr ist nach einer den Tag beschließenden Gesprächsrunde Schicht.
Es gibt für die jungen Patienten psychotherapeutische Einzelgespräche, Familiengespräche, Bewegungstherapie, Ergotherapie, eine Kreativgruppe, Entspannung und weiteres. In der Regel bleiben sie drei Monate in der Tagesklinik. Diese ist samt Ambulanz der LWL-Klinik Marl-Sinsen angegliedert.