Bochum. „Hier begann für viele Männer der Weg in den Tod“: Das steht seit Freitag vor dem Husemannkarree in Bochum auf dem Boden. Was dahintersteckt.
Erst war es Erstaunen, dann Empörung. Als Jürgen Wenke Mitte der Nullerjahre auf das Stolperstein-Projekt aufmerksam wurde, lagen bereits knapp 70 Stück im Bochumer Stadtgebiet. „Ich hab mir alles durchgelesen“, erzählt er, alle Geschichten der Nazi-Opfer, derer mit den kleinen, messingbeschlagenen Steinen im Pflaster gedacht wird. Was er jedoch nicht fans, waren Erinnerungen an verfolgte Homosexuelle. Das, sagt er, habe ihn empört: „Gedenkkultur darf nicht neue Diskriminierung sein.“
+++ Folgen Sie der WAZ-Lokalredaktion Bochum auf Instagram! +++
Es war der Beginn von Wenkes Stolperstein-Reise. Der Psychologe, der 1980 mit seinem Freund den Verein „Rosa Strippe“ in Bochum gegründet und diesen bis 2010 als Geschäftsführer geleitet hat, widmete sich der Geschichtsforschung. „Es ging mir darum, schwule Männer zu würdigen, damit das nicht vergessen wird“, sagt er heute. Mehr als 60 Stolpersteine in 25 Städten sind auf seine Initiative hin realisiert worden. Am Freitag, 7. Juni, ist die bundesweit erste Stolperschwelle für verfolgte Homosexuelle hinzugekommen: Am früheren Standort des Amts- und Landgerichts erinnert sie an all jene, die dort deshalb verurteilt wurden.
Eingehämmert ist folgende Inschrift:
VON HIER AUS / LANDGERICHT BOCHUM 1933 – 1945 / IM GEDENKEN AN DIE HOMOSEXUELLEN OPFER / AUSGEGRENZT, DENUNZIERT, VERHAFTET, VERHÖRT, MISSHANDELT, VERURTEILT / HIER BEGANN FÜR VIELE MÄNNER DER WEG IN DEN TOD

50.000 Männer bis 1945 verurteilt – 10.000 bis 15.000 wurden in Konzentrationslager gebracht
Als „entartet“, als „Volksschädlinge“ werteten die Nationalsozialisten schwule Männer ab, die 1936 eingerichtete „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“ trug ihr Ziel offen im Namen. „Nachdem die Polizeibehörden bereits 1933 damit begonnen hatten, die homosexuelle Subkultur zu zerschlagen, wurde 1935 mit der Verschärfung des Paragrafen 175 Strafgesetzbuch eine massive Verfolgung von Homosexuellen eingeleitet“, erklärt die Bundeszentrale für politische Bildung in einem Beitrag. 50.000 Männer seien bis 1945 verurteilt worden, 10.000 bis 15.000 in Konzentrationslager gebracht worden, heißt es.
So viele Opfer, an die man erinnern könnte. „Mein Anfangsproblem war Unwissenheit“, erzählt Wenke. Er sei kein Historiker, hätte niemals gedacht, „dass ich mal weiß, wie das geht“, die Recherche, Quellenauswertung. Als er beim Stadtarchiv, in Bochum zuständig für das Stolperstein-Projekt, anfragte, ob man auch an verfolgte Homosexuelle erinnern könnte, da sei er „auf sehr offene Ohren gestoßen“, aber auch auf ein „unbeschriebenes Blatt“.

Bochumer rekonstruiert zahlreiche Schicksale
Wenke machte sich ans Werk. Er beschaffte sich Listen aus Konzentrationslagern wie Buchenwald, Dachau, Sachsenhausen und Auschwitz. Die „Rosa-Winkel-Häftlinge“ sind darin verzeichnet, Hunderte Namen jeweils, hinter jedem einzelnen steckt ein Schicksal. Nicht alle Männer, deren Geschichten Wenke rekonstruiert hat, kamen ins KZ, nicht alle starben in der Nazi-Zeit. „Die Verfolgung ging ja auch nach 1945 noch weiter“, sagt er und erinnert daran, dass der Paragraf 175 endgültig erst 1994 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde.

Der 67-jährige Bochumer erinnert beispielhaft an die Geschichte eines Lehrers, der als „175er“ verurteilt und ins KZ Sachsenhausen deportiert wurde, dort im Sommer 1942 durch einen Kopfschuss starb. Nach seinen Recherchen stellte sich heraus: Auch der Neffe des Mannes, 1944 geboren, wurde nach Paragraf 175 verurteilt – im Jahr 1962. Zwei Männer, zwei Generationen, Opfer desselben Paragrafen. „Das ist nicht Vergangenheit“, sagt Wenke. „Da leben heute noch Menschen, die warten darauf, dass es eine symbolische Entschädigung gibt.“
+++ Wollen Sie keine Nachrichten mehr aus Bochum verpassen? Dann abonnieren Sie hier unseren kostenlosen Newsletter! +++
Stolperstein-Projekt in Bochum: „Möglichkeit zum Mitarbeiten“
Für ihn sei das Stolperstein-Projekt eine „auf dem Silbertablett präsentierte Möglichkeit zum Mitarbeiten“ gewesen, „so viel Neues“ sei dadurch angestoßen worden. Es sei „ziemlich gefährlich“ gewesen, sich nicht in den Recherchen zu verlieren, da habe ihm seine Berufserfahrung als Psychologe geholfen. Jetzt aber, nach fast 20 Jahren, sei es für ihn „genug, reichlich genug. Da kommt die Psychohygiene ins Spiel“.
Die Schicksale der Männer, die Abgründe, in die er geschaut habe, „das schleicht sich in die Träume“, sagt Jürgen Wenke. Ein paar Vorschläge für Stolpersteine habe er noch, er wolle sein Wissen weitergeben, aber nicht mehr selbst recherchieren.
Bochumer Jürgen Wenke: „Hat sich viel zum Positiven verändert“
Sein eigenes Coming-out liegt inzwischen 47 Jahre zurück, die Situation für schwule Männer sei heute eine „komplett andere“ als in den 70ern, es „hat sich viel zum Positiven verändert“. Das gesellschaftliche Klima derzeit bereite ihm dennoch Sorge, sagt er, Hasstiraden gegen Homosexuelle gebe es immer noch. Leute „trauen sich, Dinge zu sagen, die es früher nicht in die Öffentlichkeit geschafft hätten“.
Die Stolperschwelle sei so auch kein Schlusspunkt. Ob man ihn „Schwulenaktivist“ nennen könne, sei er mal gefragt worden, erzählt Wenke. Seine Antwort? „Wenn das Gegenteil Passivist ist, dann gerne!“
- Jürgen Wenke informiert umfangreich über sein Engagement und seine Recherchen auf der Homepage www.stolpersteine-homosexuelle.de
Stolpersteine und Stolperschwellen
Seit mehr als 30 Jahren widmet sich der Künstler Gunter Demnig der Erinnerung an jene, die einst Nachbarn waren und eines Tages verschwanden – vertrieben oder verschleppt, verurteilt oder ermordet in der Nazizeit. Am 16. Dezember 1992 legte Demnig in Köln seinen ersten Stolperstein. Inzwischen liegen in Deutschland und vielen anderen Ländern mehr als 100.000 dieser kleinen, mit Metall beschlagenen Quader vor den Häusern, in denen die Opfer zuletzt wohnten.
In Bochum wurde 2004 der erste Stolperstein verlegt. Darauf folgten mehr als 350 weitere. Auch zwei Stolperschwellen gibt es in Bochum: eine zum Gedenken an Zwangsarbeiter des Bochumer Außenlagers des KZ Buchenwald an der Brüllstraße (Kohlenstraße), eine in Erinnerung an verfolgte Sinti und Roma (Appolonia-Pfaus-Park). Die Stolperschwelle für verfolgte Homosexuelle wird am Freitag, 7. Juni, um 9 Uhr vor dem Husemannkarree an der Viktoriastraße verlegt.
Während Stolpersteine immer einzelnen Personen zugeordnet sind, erinnern Stolperschwellen an eine Gruppe von Betroffenen. „Es gibt Orte, an denen Hunderte; vielleicht tausende Stolpersteine verlegt werden müssten, aber an denen der Platz nicht ausreicht oder die Dimension jede Vorstellungskraft sprengen würde“, erklären die Macher. Stolperschwellen können bis zu einem Meter breit sein; sie dokumentieren in wenigen Zeilen, was am betreffenden Ort geschehen ist.
Federführend fürs Bochumer Stolperstein-Projekt ist das Stadtarchiv. Wer selbst eine Patenschaft übernehmen möchte, kann sich unter stadtarchiv@bochum.de oder telefonisch (0234/910 9501) melden.