Wermelskirchen. Klaus-Dieter Kaufmann (71) ist viermal sitzen geblieben und vom Gymnasium geflogen. Heute ist er Lehrer – und unterrichtet in NRW Schulabbrecher.
„Prozentrechnung oder Zinsrechnung? Was ist dein Spezialgebiet?“, fragt Klaus-Dieter Kaufmann. „Oh Mann, Herr Kaufmann“, antwortet der Schüler. „Das wird schon. Letztes Mal warst du doch auch nicht schlecht“, sagt Kaufmann. Der Schüler zieht seine Augenbraue hoch. „Ich hatte eine vier Plus.“ Kaufmann lacht. „Ja, sag ich doch. Du hast mich positiv überrascht.“
Ein Dienstagmorgen an der Volkshochschule in Wermelskirchen. Obwohl die Schülerinnen und Schüler gleich eine Mathe-Arbeit schreiben, ist die Stimmung im Klassenzimmer gut. Wie immer, wenn Klaus-Dieter Kaufmann an der Tafel steht. Der 71-Jährige ist selbst viermal sitzengeblieben, vom Gymnasium geflogen und hat seinen Abschluss erst im zweiten Anlauf geschafft. Heute unterrichtet er Schulabbrecher.
In NRW brechen jedes Jahr tausende Jugendliche die Schule ab
In NRW verlassen jedes Jahr tausende Jugendliche die Schule, ohne mindestens einen Hauptschulabschluss in der Tasche zu haben. 2021 waren es 10.125, 2022 bereits 11.400. Aktuellere Zahlen gibt es laut Landestatistikamt IT.NRW nicht. „Die Jugendlichen sind alle auf die eine oder andere Weise gescheitert. Hier bekommen sie eine zweite Chance“, sagt Klaus-Dieter Kaufmann.
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9.45 Uhr. „Guten Morgen“, begrüßt er die Klasse. Er trägt eine blaue Trainingsjacke und die Brille auf dem Kopf. 15 Jugendliche sollte er heute unterrichten, die Hälfte von ihnen fehlt. Kaufmann stört das nicht. „Sie sind nicht verpflichtet zu kommen“, sagt er und dreht sich dem Whiteboard zu. „Folgende Themen sind in der Klausur vorgesehen“, schreibt er und fragt dann: „Und, was müsst ihr heute können?“ Ein Schüler guckt aus dem Fenster, einer kramt in seiner Federmappe, ein anderer verlässt den Raum.
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Für Kaufmann ist es kein Problem, dass nicht bei jeder Frage Zeigefinger in die Luft gehen, Aufgabenzettel oft leer bleiben und Hausaufgaben nicht erledigt werden. „Das Grundgerüst muss stimmen. Aber ansonsten ist der Unterricht sehr locker, damit möglichst alle mitkommen und sich wohlfühlen.“
Dass viele von ihnen viel größere Sorgen als die Schule haben, weiß Kaufmann aus eigener Erfahrung. In seiner Familie habe es „große Probleme“ gegeben, sein Vater sei ein „sehr schwieriger Mensch“ gewesen. Als Kind hatte er mit Panikattacken zu kämpfen. Während seine Mitschüler aufmerksam zuhörten, hatte er im Unterricht Angst, zu ersticken. Er hätte sich damals gewünscht, einfach an die frische Luft gehen zu können. Deshalb können seine Schüler das Klassenzimmer jederzeit verlassen, ohne zu fragen.
Nach Autounfall: „Mir wurde klar, dass ich etwas ändern muss“
Seinen Abschluss schaffte Kaufmann damals nicht. Nach der Schulzeit hatte er kein Geld und keine feste Bleibe. Und immer, wenn die Erinnerungen an seine Kindheit ihn überrollten, griff er zur Flasche. Als er 22 Jahre alt war, fuhr er sich betrunken fast zu Tode. Ein halbes Jahr lag er im Koma. „Da wurde mir klar, dass ich etwas ändern muss.“
Er drückte wieder die Schulbank. „Ein Lehrer hat mir sehr geholfen. Er hat mich nicht aufgegeben. Das war meine Rettung“, sagt er. Auf dem zweiten Bildungsweg schaffte er mit 29 Jahren das Abitur, mit „Ach und Krach“ beendete er fast zehn Jahre später sein Lehramtsstudium. Denn für ihn stand fest: Er muss zurück in die Schule. „Ich habe mich als Kind nie von den Lehrern verstanden gefühlt. Ich wollte es besser machen“, sagt er.
„Ich habe mich als Kind nie von den Lehrern verstanden gefühlt. “
10.30 Uhr. Emiliano sitzt in der ersten Reihe im Klassenraum. Er notiert sich, was Kaufmann an die Tafel schreibt. „Herr Kaufmann ist kein typischer Lehrer. Er ist eher wie ein Kumpel“, sagt Emiliano. Der 29-Jährige brach vor zehn Jahren die Schule ab. „An meinem ersten Tag hier war ich sehr aufgeregt. Meine erste Stunde war bei Herrn Kaufmann. Er hat mir seine persönliche Geschichte erzählt. Das hat mich beruhigt, weil ich aus ähnlichen Verhältnissen komme.“
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Die Tür zum Klassenzimmer öffnet sich. „Ach Mensch, schön, dass du uns auch noch beehrst“, sagt Kaufmann. „Willst du deine Jacke nicht ausziehen?“ Der Schüler in der schwarzen Jogginghose schüttelt mit dem Kopf und setzt sich. „Hast du ein Lineal dabei für den Test?“, fragt Kaufmann. Der Schüler schüttelt wieder mit dem Kopf. „Moment mal, hast du überhaupt was zum Schreiben mit?“, fragt Kaufmann und kann sich das Lachen nicht mehr verkneifen.
Viele Schulabbrecher in NRW scheitern auch an der VHS
Jedes Jahr absolvieren rund 20 Jugendliche an der VHS ihren Abschluss. „Viele schaffen es aber auch nicht. Wir versuchen, ihnen so gut es geht zu helfen. Aber sie kommen oft aus schwierigen Verhältnissen, haben teilweise psychische Probleme“, sagt Jaqueline Wolf. Sie ist für die pädagogische Betreuung der Jugendlichen verantwortlich und spricht mit ihnen über Probleme in der Schule oder zuhause.
„Für viele ist es noch zu früh, sie haben andere Sorgen“, weiß auch Kaufmann, der seit 25 Jahren an der VHS arbeitet. „Manche kommen dann im nächsten Jahr wieder, andere landen im Knast.“ Ihm sei dieses Schicksal nur erspart worden, weil erst ein Lehrer, später Professor an ihn geglaubt hätten. „Ohne sie hätte ich es nicht gepackt“, sagt er. 11.15 Uhr. Kaufmann nimmt die Zettel vom Stapel, verteilt die Mathe-Klausur und sagt: „Ihr schafft das schon.“
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