Bochum. Schule könnte ein perfekter Ort für Demokratie sein, sagt Forscher Karim Fereidooni. Aber für das Schuljahr 2024/25 hat er eine düstere Prognose.
Der Nahe Osten brennt, die AfD erstarkte bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland, religiöse und politische Extremisten sind auch in NRW auf dem Vormarsch. Der Bochumer Rassismus-Forscher Karim Fereidooni befürchtet, dass die Schule nicht mehr dazu in der Lage ist, den Trend zum Extremismus zu korrigieren. Zum Schuljahr 2024/25 sprach der Professor mit Laura Lindemann und Matthias Korfmann über Lehrer, die sich raushalten, wenn es ernst wird, über Gesinnungstests an muslimischen Kindern und über das Versagen des Politikunterrichts.
Herr Prof. Fereidooni, versagt die Schule, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche zu guten Demokraten zu erziehen?
Karim Fereidooni: So, wie das Schulwesen heute ist, kann es nicht weitergehen, weil der Schule zu viel aufgebürdet wird. Schule ist der zentrale Ort, an dem Demokratie gelehrt und vorgelebt werden muss. Für manche Kinder ist Schule sogar der einzige Ort, an dem demokratische Werte vermittelt werden und an dem sie unterschiedliche Positionen kennenlernen.
Wenn die Gesellschaft antidemokratische Tendenzen aufweist, wie soll Schule das reparieren?
Die Gesellschaft ist insgesamt nicht undemokratisch, aber zwischen zehn und 20 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind wirklich antidemokratisch eingestellt, Tendenz: zunehmend. Einer Studie zufolge lag der Anteil von Rechtsextremisten vor zehn Jahren bei drei und heute bei acht Prozent.
Spiegelt sich dieser Trend in den Schulen?
Zumindest nehmen die Konflikte zu. Nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 haben mich jüdische Eltern aus dem Ruhrgebiet kontaktiert und gesagt, dass ihre Kinder aus Angst vor Angriffen nicht mehr in die Schule gehen konnten. Muslimische Eltern kontaktierten mich und sagten: Wir haben nichts mit der Hamas zu tun, aber Lehrkräfte verwickeln mein Kind in Verhörsituationen.
Es ist doch gut, wenn Lehrkräfte Kinder auf solche Themen ansprechen, oder?
Ja, sicher. Es gibt aber eine große Unsicherheit unter Lehrkräften, ob sie überhaupt etwas Politisches sagen dürfen. Viele meinen, sie müssten neutral sein und gehen schwierigen Diskussionen aus dem Weg. Und das ist falsch. Lehrkräfte dürfen zwar nicht für Parteien werben, aber sie müssen entschieden demokratisch auftreten.
Woher kommt diese Neigung, sich rauszuhalten?
Das Defizit liegt in der Ausbildung. Alle Lehramts-Studierenden, egal ob sie Mathematik, Politik oder Chemie studieren, müssen sich mit Inklusion beschäftigen, und das ist gut so. Es steht aber leider nicht im Lehrerausbildungsgesetz, dass sie sich mit Rassismus, Antisemitismus und Queer-Feindlichkeit beschäftigen müssen.
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Brauchen wir ein Schulfach Demokratie?
Nein, wir haben ja das Fach Politik. Das leidet aber darunter, dass meist fachfremde Lehrkräfte Politik unterrichten. Außerdem ist Zeit ein Problem. Die Lehrkräfte haben zum Beispiel keine Zeit dafür, Gedenkstättenfahrten ordentlich vor- und nachzubereiten und mit Kindern auch über aktuelle politische Ereignisse zu sprechen. Die Lehrpläne müssten dringend entschlackt werden.
Was ist überflüssig?
Vieles, was mit der Lebensrealität der Schülerinnen und Schüler nichts zu tun hat. Was im Politikunterricht gestrichen werden sollte, müsste eine Expertenkommission herausfinden. Gerade in der Oberstufe sind Schüler und Lehrkräfte in einem Korsett gefangen. Die Vorbereitung aufs Zentralabitur lässt aktuelle Themen gar nicht zu.
Es heißt, Schülerinnen und Schüler verstünden zu wenig von Wirtschaft, Informatik, Ernährung, Medienkompetenz. Jetzt fordern Sie, demokratische Werte zu stärken. Hat Schule den Bezug zum Hier und Jetzt verpasst?
Das deutsche Schulwesen ist im 19. Jahrhundert hängen geblieben und bremst das Engagement und die Fähigkeiten der vielen engagierten und gut ausgebildeten Lehrkräfte. Die meisten Pädagoginnen und Pädagogen lieben ihre Fächer und die Arbeit mit jungen Menschen. Aber die Klassen sind zu groß, viele Schulgebäude sind marode, und es fehlt Zeit für vertiefende Arbeit..
Wie kann man Schülerinnen und Schüler zu Demokraten erziehen, die aus einem extremistischen Elternhaus stammen?
Es ist ganz wichtig, die Familien an Bord zu holen. Dafür gibt es noch keine richtigen Konzepte. Sinnvoll wäre es, wenn Schulen mit Familienbildungsstätten zusammenarbeiten. Lehrkräfte können das im ohnehin schon herausfordernden Schulalltag nicht stemmen.
In Zeiten von Krisen und Kriegen, etwa dem Nahost-Konflikt, ist sicherlich schnelles Handeln gefragt, um die Demokratie hier vor Ort in den Schulen zu stärken. Gibt es kurzfristige Lösungen?
Nein. Dinge, die jahrzehntelang verpasst wurden, kann man nicht innerhalb von wenigen Wochen umsetzen. Für das neue Schuljahr sollte sich die Politik deshalb endlich mit Expertinnen und Experten an einen Tisch setzen und entsprechende Konzepte ausarbeiten. Denn die Probleme werden nur schlimmer.
Zur Person: Prof. Dr. Karim Fereidooni
Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Mitglied der Lehr- und Forschungseinheit Fachdidaktik an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum und zudem kooptiertes Mitglied der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft.
Darüber hinaus hat er die Bundesregierung (Kabinett Merkel IV) in dem Kabinettsausschuss der Bundesregierung zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus, das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat im Unabhängigen Expert*innenkreis Muslimfeindlichkeit, sowie das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Nationalen Aktionsplans Integration zum Thema Integration durch Bildung beraten.
Bei der Frage, wie viel Rassismus es in der Polizei gibt, vertritt Fereidooni andere Ansichten als NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU).
Inwiefern? Was droht uns, wenn uns nicht gelingt, Schule zu einem demokratischeren Ort zu machen?
Wir werden noch weniger Menschen finden, die Lehrkraft werden wollen. Zudem wird der Anteil von Schülerinnen und Schülern ohne jeglichen Abschluss weiter zunehmen. Und auch die Anzahl an jungen Menschen, die vor allem seit Corona mit mentalen Problemen kämpfen, wird steigen. Außerdem werden die Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder vermehrt auf Privatschulen schicken, weil sie glauben, dass sie es dort besser haben.
Müssen sich auch Unterrichtsmaterialien ändern, damit den Schülerinnen und Schülern mehr Demokratie vorgelebt werden kann?
Ja, Schulbücher sind da ein zentrales Thema. Oft finden sich dort Stereotype, die einzelne Gruppen diskriminieren. Wir haben etwa dazu geforscht, wie Muslime in Schulbüchern vorkommen. Meist kommen sie in einem historisch eher negativen Zusammenhang vor, etwa, wenn es um Kreuzzüge geht. Genauso ist es bei der jüdischen Community. Sie wird meist im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt oder dem Holocaust erwähnt. Normales jüdisches Leben wird nicht abgebildet. Hier müssen Experten die Bücher mitentwickeln, die selbst zu den jeweiligen Communities gehören und damit eine authentische Perspektive einnehmen können.
Was halten Sie von der Evaluation des Islamischen Religionsunterrichts durch Prof. Khorchide aus Münster?
Studien, die sich mit Einstellungen von Schulkindern beschäftigen, sind wichtig. Hier wird das aber schlecht umgesetzt, weil nur eine bestimmte Schülergruppe herausgegriffen wurde, nämlich muslimische Mädchen und Jungen. Das erweckt den Eindruck, dass man diesen Personen nicht traut.
Lesen Sie hier: Islamunterricht: Kritik am „Gesinnungstest“ der Uni Münster
Aber wir beobachten in NRW seit Monaten antisemitische Übergriffe, und auf Demonnstrationen wird nach einem Kalifat gerufen. Ist das nicht sogar der perfekte Zeitpunkt, um nach den Einstellungen muslimischer Kinder und Jugendlicher zu fragen?
Das ist der perfekte Zeitpunkt, um demokratiefeindliche Einstellungen unter allen Schülern zu überprüfen, nicht nur unter Muslimen. Nehmen wir zum Beispiel die hohen Zustimmungswerte von jungen Menschen für die AfD bei der Europawahl. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration hat 2022 eine breite Antisemitismus-Studie durchgeführt. Ergebnis: Antisemitismus gibt es unter Einheimischen und Zugewanderten, Muslimen und Nichtmuslimen. Ich will das Problem nicht kleinreden, aber sie können da nicht nur eine Gruppe betrachten. Solch eine Studie trägt zur Spaltung unserer Gesellschaft bei.
Das Zentrum für Islamische Theologie hat aber noch eine andere Umfrage gemacht unter angehenden Lehrkräften für den Islamischen Religionsunterricht. Die Ergebnisse sind zum Teil erschreckend. Zum Beispiel soll jeder dritte Befragte Juden als Feinde ansehen. Sehen sie diese Umfrage auch so kritisch wie die unter den Schulkindern?
Das ist etwas anderes, denn wir reden hier über Erwachsene. Schule ist für Kinder ein Schutzraum. Aber wenn künftige Lehrkräfte, die Schulkindern demokratische Kompetenz beibringen sollen, selbst antisemitische und undemokratische Einstellungen haben, ist das inakzeptabel.
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