Essen. Vor 75 Jahren findet die erste Bundestagswahl in der gerade gegründeten Republik statt. Die Hitler-Zeit wirkt noch nach.
Die erste Bundestagswahl am 14. August 1949 lief unter chaotischen Vorzeichen ab. Es war – abgesehen von den Wahlen zu den Landtagen und den Kommunalwahlen in den Jahren nach Kriegsende – die erste freie Wahl auf deutschem Boden seit der Reichstagswahl vom 6. November 1932. Ein Rückblick.
Der Alltag in der Bundesrepublik
So wohnt man in den Jahren nach Kriegsende: Zwei Erwachsene und sechs Kinder auf 12 Quadratmeter Wohnfläche in Mansarde oder Keller. Betten sind mit weiteren Personen zu teilen. Acht Millionen Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten machen alles noch enger. Und so essen die Westdeutschen zu dieser Zeit: 750 Gramm Fleisch, 250 Gramm Käse, 10 Kilo Brot. Es ist die auf der Lebensmittelkarte vorgesehene Ration pro Person und Monat. „Erbsen werden gemeinsam mit Trockenkartoffeln fein zu Suppenmehl verarbeitet“, haben die Landesernährungsämter für die Schulspeisung vorgeschrieben. Der Brennstoff für ein bisschen Wärme? Zusammengeklaubt und geraubt. Für den Kölner Kardinal Frings ist der Diebstahl von Kohle aus Güterzügen keine Sünde. Dazu Trauer in fast jeder Familie. 5,3 Millionen Väter, Freunde, Söhne sind auf den Schlachtfeldern des 2. Weltkriegs geblieben. Andere sitzen als Kriegsgefangene im fernen Asien. Von Millionen Vermissten wissen sie zu Hause nichts.
Die Nachkriegszeit in Westdeutschland ist 1949 noch immer ein einziger Ausnahmezustand. Auch, wenn es nach der von den Nazis entfachten Weltkatastrophe seit Care-Paketen, Marshallplan und D-Mark-Einführung im Vorjahr langsam bergauf geht. Das Sagen haben Amerikaner, Briten und Franzosen als Besatzungsmächte. Der Oberbefehlshaber der britischen Zone gibt Ziele einer künftigen Politik per Befehl vor: Deutsche Kinder sollen „freie Staats- und Weltbürger“ werden. „Sie, deutsche Väter und Mütter, müssen Ihren Teil dazu beitragen, um ihre Kinder auf einen gesunden Lebensweg zurückzuführen“.
Die Macher
Die Botschaft der Briten ist im Norden und Westen so klar angekommen wie die seiner amerikanischen und französischen Kollegen im Süden des zerteilten und zerstörten einstigen Reichsgebiets. Der Kurs: Demokratie statt Diktatur. Bundesländer hatten sich bald gegründet. Doch in diesen Tagen vor 75 Jahren, am 14. August 1949, macht der neue Staat den großen Schritt nach vorn. 24 Millionen Bürger, 78,5 Prozent der Wahlberechtigten, wählten den ersten Bundestag der frisch gegründeten Bundesrepublik. Jeder hat nur eine Stimme. 410 Abgeordnete ziehen ins Parlament in die ehemaligen Pädagogische Hochschule am Bonner Rheinufer ein. Das Grundgesetz wurde zum Fundament ihrer Arbeit.
Wie die neu gegründeten Parteien zu funktionieren hatten, das wurde durch engagierte Frauen und Männer in mehreren regionalen Schwerpunkten erdacht. Vom Freidemokraten Theodor Heuß in Schwaben. Von den Sozialdemokraten Kurt Schumacher und Hinrich Kopf in Niedersachsen. Von Josef Müller („Ochsensepp“) und Franz Josef Strauß in Bayern. Die katholische Frauenrechtlerin Helene Weber und, in Frankfurt, der Wirtschaftsexperte Ludwig Erhard mischten mit. Erhard hatte zuvor die Einführung der D-Mark organisiert. Vor allem aber zog Kölns früherer Oberbürgermeister und Christdemokrat Konrad Adenauer aus dem Rheinland die Strippen.
Sie tasteten sich unkonventionell ins Geschäft. Sogar Kneipen wurden zum Ort der Diskussion, Entscheidungen fielen in langen, manchmal feuchtfröhlichen Nächten. Der Bonner Chronist Paul Schwakenberg berichtet über ein Zusammentreffen der Adenauer-Truppe: „Besonders hoch muss es in Rhöndorf zugegangen sein, als zum ersten Mal Franz-Josef Strauß zu den trinkfesten Unions-Gründern in den tiefen Keller hinabstieß“. Der Wirt habe danach das Ergebnis so zusammengefasst: „Nicht viel beschlossen, aber alle besoffen“.
„Lügenauer“ und „Soffjet“-Macht
Im Frühjahr 1949 stehen die Gerüste, mit denen die einzelnen Parteien in die kommende Wahlauseinandersetzung ziehen wollen. Das „Wer geht mit wem?“ wird diskutiert. Teile von Union und SPD denken an die Große Koalition. Adenauer nicht. Er wird seinen Willen durchsetzen. Aber Anfang August scheint der Wahlausgang noch offen. 19 Parteien werden zur Bundestagswahl Mitte des Monats antreten. Neben den aussichtsreichen Kandidaten SPD und CDU/CSU unter anderen die KPD, die konservative Deutsche Partei, Zentrum, Bayernpartei und die FDP. Rechtsausleger DRP vertritt Ideen des untergegangenen Hitler-Deutschland.
Jetzt entscheidet das Duell zweier Männer. SPD-Chef Kurt Schumacher ist der eine. In seiner Hannoveraner Parteizentrale gilt er als Favorit. Für seine Sozialdemokraten könnte es gut laufen, glaubt er selbst, hat aber durchaus Zweifel: Die Berliner dürften ja nicht mitwählen. So fürchtet er um die Kanzlerschaft auch wegen der „agrarisch-katholischen Wähler“ weit im Westen.
Tatsächlich sind seine Ziele, die der im Ersten Weltkrieg Verwundete mit herbem Tonfall vertritt, durchaus östlich angehaucht: Er will schnell ein wiedervereinigtes Deutschland aushandeln, einschließlich der verlorenen Ostgebiete. Er will die Vergesellschaftung der großen Unternehmen und die Sozialisierung des Ruhrgebiets „und keine „Interessenvertretung der Mammons und Kriegsgewinnler“. Ein Mitreden einer „fünften Besatzungsmacht“, wie er die katholische Kirche nennt? Ausgeschlossen. Eine Westanbindung, so, wie Adenauer sie bevorzugt, womöglich sogar ein eigener „West-Staat“? Das ist Schumacher zuwider. Den Gegner nennt er „Lügenauer“. Noch Wochen nach der Wahl wird er ihn unter lautem Protest der Parlamentsmehrheit zurufen: „Kanzler der Alliierten“.
Der zwanzig Jahre ältere Konrad Adenauer entwickelt sich in diesem Sommer zum Gegengewicht. Er hält sich mit persönlichen Angriffen zurück. Neben den zentralen Themen des Wahlkampfes – Wiederaufbau und Wohnungskrise, Ernährungslage, die Vermeidung der von den Alliierten geplanten Demontage von immer noch 600 Betrieben – stellt er Familien- und Elternrecht sowie die Frage der Bekenntnisschulen in den Mittelpunkt. Er verspricht nach einem Wahlsieg ein „christliches Deutschland“ und eine „soziale Marktwirtschaft“.
Aber bei einer Großkundgebung in Heidelberg, 50.000 Menschen hören ihm zu, warnt er vor „der Gefahr, vom kommunistischen Heidentum verschlungen zu werden“. Er weist auf die drohende „Soffjet“-Macht hin. Unterschwellig mahnt der Katholik, die in London regierende Labour-Party könne mit der SPD gemeinsame Sache machen und eine sozialistische Bundesrepublik errichten. Das ist Unsinn. Aber es sind die Jahre, in denen ihm Amerikaner und Franzosen näher rücken.
Die Gewalt
Sie ist ein Thema, das die Geschichtsschreibung bis heute kaum beachtet hat. Jetzt hat die Freiburger Historikerin Claudia Gatzka in der „Zeit“ darauf hingewiesen. Danach hat Gewalt die erste Bundestagswahl in erheblichem Umfang begleitet. Nach dem Hungerwinter von 1946/1947, angesichts hoher Arbeitslosenzahlen und des drohenden Abbaus der Industrieanlagen vor allem im Ruhrgebiet, wird es im Vorfeld der Wahl unruhig auf den Straßen. Um die Wahlkämpfer entwickeln sich „Radau“-Szenen. KP-Redner werden mit Tränengasbomben eingedeckt. In Nürnberg bricht Adenauer eine Rede ab, als Kommunisten seine CDU-Kundgebung sprengen. In Hamburg, wo auf Handzetteln („Schlagt Brauer tot“) zum Mord am Ersten SPD-Bürgermeister aufgerufen wird, prügeln sich Mitglieder der Deutschen Partei mit Sozialdemokraten. Eisenstangen und Zaunlatten, gespickt mit rostigen Nägeln, kommen zum Einsatz.
Mit einer Stimme Mehrheit
„Der Andrang ist schlimmer als zu Hitlers Zeiten“ hat die Wirtin des Wahllokals „Traube“ in Rhöndorf zu Konrad Adenauer am Morgen des 14. August 1949 gesagt. Vergleiche mussten damals nicht unbedingt passen. Tatsächlich lag die Wahlbeteiligung viel höher als erwartet. Filmaufnahmen zeigen, wie bayerische Almbauern Wahlurnen auf den Rücken geschnallt ins Tal schaffen. Das Ergebnis fiel knapper aus und anders als erwartet. CDU/CSU lagen nach der Auszählung vorn: 31 Prozent. Schumachers SPD, die große Traditionspartei, schaffte mit 29,2 Prozent nur Platz 2. Er legte sie bald auf die Oppositionsrolle fest. Mit 11,9 Prozent wurde die FDP drittstärkste Kraft. Mit den vier Prozent der Deutschen Partei und den Stimmen der FDP formte Adenauer die erste gewählte Nachkriegsregierung in Westdeutschland. Mit einer Stimme Mehrheit, der eigenen, wurde Konrad Adenauer am 15. September 1949 zum Bundeskanzler gewählt. Er sollte das, über 14 entscheidende Jahre, bis 1963 bleiben.
Die DDR legte 1950 nach
Gut ein Jahr nach der Bundesrepublik fanden in der DDR die ersten Volkskammerwahlen statt, am 15. Oktober 1950. Doch es war eine Scheinwahl für ein Scheinparlament. Laut DDR-Verfassung hatte die Volkskammer zwar die alleinige verfassungsändernde und legislative Kompetenz; tatsächlich aber bestimmten das Politbüro und die SED den politischen Kurs. Die Volkskammer durfte den Beschlüssen nur zustimmen.
Auch die Wahl selbst war nicht demokratisch. Alle Parteien und Massenorganisationen waren 1950 zur „Nationalen Front“ zusammengefasst. Sie trat mit einer Einheitsliste an. Die Stimmabgabe selbst war oft nicht eben geheim, sondern offen, ohne Wahlkabinen. Die SED ließ Wahlergebnisse fälschen, sodass bei 98 Prozent Wahlbeteiligung 99,7 Prozent der Stimmen auf die Einheitsliste entfielen.
Schon vor der Volkskammerwahl stand fest, welche Partei wie viele Sitze in dem Parlament erhalten würde: 25 Prozent für die SED, jeweils zehn Prozent an die sogenannten Blockparteien LDPD, CDU, DBD und NDPD, allesamt formal eigenständige Parteien, die sich jedoch dem Führungsanspruch der SED unterordneten. Erster Volkskammerpräsident wurde Johannes Dieckmann (LDPD)
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