Bochum/Gladbeck. Medizin zu studieren? Nur etwas „für Bessere“ glaubte Daniel Materzok (33) aus Gladbeck. Um dann allen das Gegenteil zu beweisen.

Daniel Materzok war 15, als ein betrunkener Autofahrer seinen Vater auf dem Motorrad beinahe tötete. „Ihr Mann wird es nicht schaffen“, sagten die Ärzte seiner Mutter. Aber dann machten sie das Unmögliche doch wahr: Der Vater überlebte den Unfall, kam sogar wieder auf die Beine. Der Moment, in dem er das erfuhr, war der Moment, in dem Daniel Materzok wusste: Ich werde Arzt.

Die Idee habe schon sehr früh in seinem Kopf herumgespukt, erzählt der heute 33-Jährige aus Gladbeck. Sie zu verwirklichen, das habe er als Kind und Jugendlicher aber nicht einmal zu träumen gewagt. Und doch sitzt der Mann mit seinen großflächigen Tattoos auf den Armen und dem Ring in der Nase heute in rosafarbenem Kasack und weißem Kittel vor uns. Im Knappschaftskrankenhaus Bochum-Langendreer absolviert er sein „Praktisches Jahr“, das PJ, den letzten Teil des Medizin-Studiums. „Inneres“ hat er schon hinter, „Chirurgie“ noch vor sich. Gerade steckt er in der „Anästhesie“, seinem Wahlfach. Im Januar beginnt er an der Düsseldorfer Uniklinik die Facharzt-Ausbildung zum Kardiologen, der Vertrag ist unterzeichnet, die Promotion dann hoffentlich abgeschlossen.

„Ein Regal zu hoch für mich“

Das ist für ihn, das Arbeiterkind aus dem Norden des Reviers, eigentlich auch ein Wunder. Doktor, Arzt werden zu wollen, sei ihm lange „vermessen“ erschienen. „Ein Regal zu hoch für mich“, dachte er, „etwas für Bessere“. Die Mutter: Hausfrau. Der Vater: Industriearbeiter. „Im Bekanntenkreis unserer Familie gab es keine Ärzte“, erzählt Materzok. „Und wenn meine Schwester oder ich zum Doktor mussten, machte uns meine Mutter fein. Ärzte, das waren für sie Menschen, zu denen man aufblickte.“

Trotz Gymnasial-Empfehlung meldeten die Eltern ihr Kind an der Realschule an. Nicht, weil sie Daniel das Gymnasium nicht zutrauten; „sie hielten mich schon damals für ziemlich schlau“, lacht der. Sie trauten es sich selbst nicht zu, wählten lieber den „sichereren“ Weg. „Wir können dir nicht helfen, und für Nachhilfe-Unterricht ist kein Geld da“, hieß es. „Ich bin später sehr glücklich geworden an der Werner-von-Siemens-Schule“, erinnert sich der angehende Arzt. „Aber anfangs war ich sehr traurig. Für mich als Harry-Potter-Fan fühlte sich Realschule an wie Ravenclaw. Und ich hatte nach Gryffindor gewollt.“

Oder doch lieber Rockstar werden?

Erst nach der zehnten Klasse wechselte der Schüler ans Vestische Gymnasium Kirchhellen – ein Schritt, der ihm nicht so leichtfiel, wie er es erwartet hatte. An Mathe hatte er zu knacken – und an Schulkameraden, die deutlich machten: Du wirst nie Arzt. Rockstar schien ihm eine prima Alternative, als Sänger der Hardcore-Metal Band „The Serious Chaos“ verdiente er schon erstes Geld. Die Musik wurde wichtiger als das Lernen, das Abi machte Daniel Materzok 2010 mit einem Schnitt von 3,0. Er ärgert sich noch heute darüber.

Denn für das Medizin-Studium wird ein Numerus Clausus (NC) von 1,0 verlangt. Daniel Materzok bewarb sich trotzdem – und landete auf der Warteliste, über die damals noch ein Teil der Studienplätze vergeben wurde. Auf welchem Platz? Weiß er nicht mehr genau, „aber es war eine utopisch hohe Zahl“.

Ein Studienplatz für den „Asi aus Gladbeck“

Um die Wartezeit zu überbrücken, machte der Gladbecker nach dem Ersatzdienst bei der Caritas eine Pflege-Ausbildung in Bottrop. Und fand großen Gefallen daran, obwohl er nie einen Hehl daraus machte, dass sie für ihn nur ein Schritt auf dem Weg sei. „Medizinisches interessierte mich mehr als Grundpflege, vor allem aber habe ich festgestellt, wie sehr ich die Arbeit mit Menschen mag.“ Drei Jahre später war Daniel Materzok ausgebildete Pflegekraft – und ein Studienplatz für Medizin noch immer nicht in Sicht. Er wechselte ins Pflegeteam der Psychiatrie des Essener Huyssenstifts. Und blieb dort. Bis zu seinem Physikum, dem ersten Staatsexamen der Medizin-Studenten.

Denn 2018 klappte es endlich, nach acht Jahren und 16 Wartesemestern erhielt der „Asi aus Gladbeck“ (Materzok über Materzok) endlich einen Studienplatz für Medizin an der Uni Bochum. Als der Bescheid kam, war es kein „Heart-Break-Moment“, erinnert sich Materzok. „Es war eher wie ein Lohn, den ich mir endlich abholen konnte.“

„Lehrer fehlen, die sagen: Du schaffst das“

Acht Jahre darauf warten, dass man Medizin studieren darf – angesichts des großen Mangels an Fachkräften in diesem Bereich? Sollte der NC abgeschafft werden? „Schwer zu sagen“, findet Materzok. „Das Medizinstudium kostet den Staat ja sehr viel Geld... Falsch war es sicherlich, die Wartezeit-Regelung abzuschaffen. Menschen mit einem schlechten Abi wie ich haben jetzt kaum noch eine Chance, Medizin zu studieren.“ Um mehr junge Menschen für die Medizin zu begeistern, bräuchte es seiner Ansicht nach vor allem Pädagogen, „die früh erkennen, was in einem steckt, und das Selbstbewusstsein stärken“; Lehrer, „die Schülern sagen, wenn du Arzt werden willst, dann arbeite gezielt dafür, und: du schaffst das!“

Daniel Materzok bei einer Sonografie: Auch das gehört zu seinen Aufgaben. Studentin Kiki, ebenfalls PJlerin im Knappschaftskrankenhaus, macht fürs Foto das „Schall-Opfer“.
Daniel Materzok bei einer Sonografie: Auch das gehört zu seinen Aufgaben. Studentin Kiki, ebenfalls PJlerin im Knappschaftskrankenhaus, macht fürs Foto das „Schall-Opfer“. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Materzok erhält Bafög, auch seine Freundin, eine Krankenpflegerin, unterstützt ihn. Das Studium und die ersten beiden Staatsexamen hat er in Regelstudienzeit gemeistert, ohne bei einer einzigen Prüfung durchzufallen, „obwohl andere in Chemie und Physik definitiv mehr draufhatten als ich“. Kluges Zeitmanagement habe ihm geholfen, das „unglaubliche“ Lernpensum zu bewältigen – und die Zeit in der Pflege sowieso. Gerade im Praktischen Jahr sei diese Erfahrung Gold wert. „Im Schockraum beim ersten Dienst Noradrenalin aufzuziehen? Spannend für Anfänger, kein Ding für mich. Hab ich oft genug gemacht.“

Das nächste Ziel fest im Blick: die Habilitation

Gab es keinen Moment, da er zweifelte an seiner Entscheidung, Arzt zu werden? „Ehrlicherweise doch“, räumt er ein. „Wenn man sieht, wie die Kollegen buckeln, 60 Stunden in der Woche, und was dann dabei monetär rumkommt...“ Aber im Grunde treffe dieser Beruf „zu hundert Prozent“ sein Interesse. „Er ist anstrengend, aber ich könnte mir nichts anderes vorstellen.“ Er liebe „diesen coolen Mix aus praktischer und theoretischer Arbeit“, morgens einen ZVK (einen schwierigen, zentralen Zugang in Venen an Hals oder Leiste) zu legen, nachmittags über die Lösung für einen hochkomplexen Fall nachzudenken.

Mit Tattoo und Piercing ans Krankenbett? In Düsseldorf, denkt Daniel Materzok, wird der ein oder andere stutzen. In Bochum sagten die Patienten höchstens: „cool“.
Mit Tattoo und Piercing ans Krankenbett? In Düsseldorf, denkt Daniel Materzok, wird der ein oder andere stutzen. In Bochum sagten die Patienten höchstens: „cool“. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Eine einzige Bewerbung für die erste Stelle nach dem Studium hat er geschrieben: Die Uniklinik Düsseldorf sagte sofort zu, versprach ihm sogar einen Forschungs-Aufenthalt in den USA. Das war ihm wichtig. Denn Daniel Materzok hat noch vor dem dritten und letzten Staatsexamen, noch vor der offiziellen Approbation und noch bevor er seine Doktorarbeit über „Gallensäureprofile bei Sepsis-Patienten“ beendet hat, das nächste berufliche Ziel längst im Blick: die Habilitation. Das Arbeiterkind will Professor werden.

Weitere Texte rund um das Thema Gesundheit