Bochum. „Es war nicht cool“, sagt sie. Experten glauben: Erkrankt ein Elternteil früh an Demenz, fliegt ihren Kindern „die ganze Welt um die Ohren“.

Als sich ihre „Mom“ zu verlieren beginnt, ist Sophie (die eigentlich anders heißt) 13 Jahre alt, ihr Bruder neun. „Es ging schleichend los“, erzählt die heute 20-Jährige, „aber wir haben alle bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmt. Vielleicht eine Depression, dachten wir.“ Ihrer Mutter, damals noch keine 40, ist alles zu viel: die Kinder, der Haushalt, der Teilzeit-Job als Sekretärin. „Sie war nur noch schlecht drauf, stand total unter Druck, hat unfassbar viel mit meinem Vater gestritten. Und auch wir sind ständig aneinandergeraten.“

„Sind wir davor schon“, schiebt sie nach, „aber da ging es um normale Dinge.“ Nun macht die Mutter ihre pubertierende Tochter sogar vor deren Freunden wegen Kleinigkeiten nieder; geht unter die Decke, nur weil in der Küche ein Teller auf dem Tisch stehen geblieben ist. „Sie nahm nicht wahr, dass das vollkommen unangemessen war, dass ich mich wegen ihrer Auftritte furchtbar schämte.“ Heute weiß Sophie: Die erschreckende Wesensänderung ihrer Mom ist ein typisches Symptom, es gehört zur Krankheit: Sophies Mutter leidet an Demenz.

30.000 bis 40.000 Frühdemenz-Fälle in Deutschland

Keine zwei Prozent aller Demenzerkrankungen betreffen Menschen unter 65, dennoch 30.000 bis 40.000 Männer und Frauen in Deutschland. In jeder dritten Familie leben Kinder unter 18. Für die betroffenen Heranwachsenden ist das eine „Katastrophe“ sagt die Psychotherapeutin Dr. Ute Brüne-Cohrs. „Diesen Jugendlichen fliegt die ganze Welt um die Ohren“, sagt der Bochumer Heilpädagoge Jan Hildebrand. „Vor meinen Freunden“, sagt Sophie, „habe ich cool getan. Aber es war nicht cool.“

Besuch der St. Vinzenz-Jugendhilfe am 17.05.2022 in Bochum. LWL-Projekt KidsDem: Eine Forschergruppe um die Bochumer Psychiaterin Ute Brüne-Cohrs entwickelt Hilfsangebote für die Kinder junger dementiell erkrankter Eltern. Sie sind wie alle Angehörigen von der Krankheit stark mit betroffen. Doch Jugendliche trifft das in einer besonders sensiblen Phase, oft sind die Folgen lebenslang zu beobachten. Die Räume sind nach einem bestimmten Farbkonzept gestaltet, so dass eine angenehme Atmosphäre von den Farben und Formen ausgeht. Im Foto: Jan Hildebrand, Erziehungsleiter.Foto: Andreas Buck / FUNKE Foto Services

„Diesen Jugendlichen fliegt die ganze Welt um die Ohren““

Jan Hildebrand

Die Diagnose, als sie endlich sicher war, habe sie damals als „krass“ empfunden, berichtet die 20-Jährige; aber danach besser verstanden, „was eigentlich los war“. Dass ihr Vater sie und den kleinen Bruder fernhielt „vom Schlimmsten“, auch vom eigenen Kummer, habe ebenfalls geholfen – genau wie das Projekt „KidsDem“. LWL-Klinik, Alzheimer-Gesellschaft und die Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung St. Vinzenz in Bochum starteten es 2021 – als bundesweites Pilotprojekt für die heranwachsenden Kinder demenzkranker Eltern.

Die Großeltern sprangen als emotionale Stütze ein

Die Krankheit habe Distanz in die Familie gebracht, findet Sophie; aber die „familiy“ habe zusammen gehalten, „und tut es bis heute“. Die Großeltern seien eingesprungen als emotionale Stütze, ein großes Glück. Oma habe auch geputzt und gekocht, als es die Mutter nicht mehr vermochte. Inzwischen kommt ein Pflegedienst mehrmals pro Woche. Anfangs sorgten die Geschwister dafür, dass die Mutter auch aß, was die Oma kochte, dass sie genug trank. Der Vater arbeitete weiter Vollzeit. „Für meinen Bruder und mich hat sich wenig geändert“, behauptet Sophie. Selbst ihre Leistungen in der Schule hätten doch nicht gelitten. Andere Jugendliche in ihrer Situation, einst Einser-Schüler, das weiß sie inzwischen, schreiben nur noch Sechsen.

Sophie fühlte sich aber rasch nicht mehr wohl zu Hause, übernachtete lieber bei Freunden, als sie mit heimzubringen. Und, ja, sie vermisste die gemütlichen Frühstücke mit der gesamten Familie, die gemeinsamen Ausflüge, die Schwimmbad-Besuche... Und ihr fehlte, räumt sie zögerlich ein, natürlich auch eine Mutter, die für sie da war; eine Mutter, wie ihre Freundinnen eine hatten; eine, der sie als Teenager auch mal mit „Mädelsthemen“ kommen konnte. Vielleicht auch eine, an der man sich reiben, von der man sich abgrenzen konnte.

Der Vater schlug seinen Kindern das Hilfsprojekt „KidsDem“ vor

Gleichaltrige verstanden oft nicht. Nur zwei Freundinnen vertraute Sophie tatsächlich an, dass ihre Mom an Demenz erkrankt ist. „Ich hab kein Problem, darüber zu reden“, erklärt sie. „Aber ich wollte nicht bemitleidet werden.“ Den Vater, mit dem sie eng verbunden sei, habe sie mit ihren Sorgen nicht belasten wollen. „Ich wusste, er litt mehr als ich.“ Auch die Mutter suchte, als es ihr noch möglich war, nie das Gespräch mit der Tochter. Im Gegenteil: „Meine Mom hat viel geweint und große Angst gehabt. Nur darüber hat sie geredet. Einmal hat sie mir gesagt, dass sie nicht mehr weiterleben will. Aber ich war ja noch ein Kind, ich konnte nicht für sie da sei.“ Und es klingt wie eine Entschuldigung, wenn sie leise anhängt: „Ich musste doch erstmal mit mir selbst klarkommen.“

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Der Vater war es, der auf der Projekt „KidsDem“ aufmerksam wurde. Er schlug den Geschwistern vor, am Kennenlerntreffen teilzunehmen. „Eine voll nette Truppe“, befanden Sophie und ihr Bruder nach dem ersten Nachmittag, der in einem Escape-Room begann und mit einem gemeinsamen Essen endete. „Lauter Gleichaltrige in gleicher Situation. Zu sehen, die machen durch, was wir durchmachen, darüber in den wöchentlichen Treffen zu reden, das war gut“, sagt Sophie. „Das wurde mein safe space.“

Von zu Hause weg, sobald es ging

Für sie sei es paradoxerweise zudem leichter geworden, als die Krankheit fortschritt – und ihre Mutter immer stiller wurde, nicht länger dieselben zwei Geschichten aus dem Kreißsaal und von ihrem Pferd in Enddlosschleife erzählte. „Ich weiß, dass das gemein klingt. Aber ich habe meine Mom im Grunde schon mit 17 verloren. Sie ist nicht tot, aber sie ist schon lange nicht mehr für mich erreichbar.“

Sophie studiert inzwischen im zweiten Semester Publizistik und Soziologie. In Mainz. Sie mache ihrer Mutter keine Vorwürfe mehr, die sei ja nicht schuld, das habe sie durch „KidsDem“ verstanden. Aber sie sei weg von zu Hause, „sobald es ging“, erzählt sie. Obwohl sie Bochum liebt, obwohl ihre Freunde da leben. Obwohl es ihr schwerfiel, den kleinen Bruder allein zu lassen. „Beim Abschied haben wir uns geschworen: Wir zwei, wir bleiben immer füreinander da.“

„Man darf die Krankheit nicht alles bestimmen lassen“

Beim Umzug half der Papa, natürlich. Aber sie hätte, erzählt Sophie, an diesem wichtigen Tag gern auch ihre Mom an der Seite gehabt. „Erst im Nachhinein ist mir das klar geworden. Wie schön es gewesen wäre, hätte auch sie mich bei diesem Schritt begleitet.“

Ob ihr Leben anders verlaufen wäre, ohne die Demenz ihrer Mutter? „Kann sein“, sagt Sophie. Aber man dürfe diese Krankheit nicht alles bestimmen lassen. „Man muss aufpassen, dass einem die Traurigkeit nicht den Weg verbaut.“