Dinslaken/Essen. Der Tumor hatte gestreut, bevor Nikolaus Lauerburg (56) überhaupt von seiner Erkrankung wusste. Gesund wird er nun wohl nicht mehr.
Es sind die spektakulären Geschichten, die gern erzählt werden. Die der wundersamen Heilung sterbenskranker Krebspatienten. Es sind nicht die Geschichten „normaler“ Patienten. Es ist nicht die Geschichte Nikolaus Lauerburgs – und doch ist auch diese erstaunlich.
Der 56 Jahre alte Betriebswirt aus Dinslaken ist gerade aus Paris zurück, als wir ihn treffen: mit dem Auto hin, drei Tage später zurück, Olympia live erleben. Das Tennis-Viertelfinale Djokovic/Tsitsipas hat er sich angeschaut, 3x3-Basketball unterm Eiffelturm, Leichtathletik im Stade de France und das Dressurreiten, „natürlich“, er reitet selbst. „Super Stimmung, tolles Erlebnis“, schwärmt der Vater zweier erwachsener Kinder. Dass er sehr krank ist, mag man kaum glauben. Anzusehen ist es ihm nicht, obwohl er jetzt doch hier im Huysensstift der Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM) sitzt, im Büro seines behandelnden Onkologen.
Das erste Therapieziel: vollständige Heilung
2022 trieben ihn Durchfälle zum Hausarzt, der veranlasste eine Darmspiegelung. „Polypen“, glaubte Lauerburg, „die können sie ja dann gleich wegmachen bei der Koloskopie.“ Es war: Krebs, im Mastdarm (Rektum). Dem Schock ob dieser Diagnose folgte indes keine Starre: Schon 24 Stunden später stellte sich Lauerburg im Darmkrebszentrum der KEM vor, sein Hausarzt hatte die Chirurgen dort empfohlen.
Doch die Tumorkonferenz befand nach weiteren Untersuchungen: Dieser Patient wird nicht sofort operiert. Sein Krebs hatte bereits gestreut, in der Leber fanden sich mehrere Metastasen. „Lauerburg ist jung, ist fit. Bei solchen Patienten geben wir Vollgas, fahren die Maximaltherapie“, erinnert sich Dr. Christian Müller, Direktor der Klinik für Internistische Onkologie. Das Ziel in solchen Fällen: eine vollständige Heilung. Eine ambulante „systemische Chemotherapie“ über drei Monate wurde angeordnet, kombiniert mit einer intensiven Kurzzeit-Bestrahlung. Lauerburg fielen die Haare aus, Übelkeit und Durchfälle machten ihm zu schaffen, „war aber nicht so schlimm“, meint er.
Drei Monate lang: war alles gut
Im Februar 2023 erfolgte dann die Operation. Minimalinvasiv wurden letzte Metastasen-Reste aus der Leber entfernt, im Darm selbst war kein Tumor mehr zu sehen. Sechs Tage musste Nikolaus Lauerburg im Krankenhaus verbringen, war aber rasch wieder auf den Beinen, sogar im Fitness-Studio und mit dem Hund unterwegs. Nur eine kleine Narbe am Bauch zeugt noch von dem Eingriff. Ärzte und Patient hofften damals, nun sei alles gut – und so sah es zunächst auch aus. Kontrolltermine im Abstand von drei Monaten wurden vereinbart. Lauerburg sah ihnen gelassen entgegen.
Gleich beim ersten, im Mai 2023, zeigte sich: Nichts ist gut. Im Gegenteil.
Kein „Chirurgen-Krebs-Wettrennen“
In der Leber steckten eine Handvoll neuer Metastasen, belegten die Bilder der Computertomografie. „Wenn das passiert, verschlechtern sich die Aussichten deutlich“, erklärt Müller. „Statistisch gesehen liegt schon bei ein bis zwei Herden in der Leber die Wahrscheinlichkeit, dass danach nie wieder etwas auftritt, nur noch bei 20, 25 Prozent.“ Lauerburg fluchte, als er das erfuhr, sagte sich in einer ersten wütenden Reaktion: „Dann kann ich ja auch wieder zu rauchen anfangen.“ Schon bei der ersten Zigarette wurde ihm allerdings so übel, dass es bei der einen blieb.
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Weitere Leber-Operationen, ein „Chirurgen-Krebs-Wettrennen“, hielt sein Onkologe für wenig sinnvoll. Die Tumorkonferenz riet zu Chemo- und Antikörpertherapien – die weniger gut verträglich waren („die Zeit von Mai bis Oktober war nicht so toll“), aber gut anschlugen. Die Metastasen schrumpften. Dass sie gänzlich verschwinden: Das ist nicht mehr Ziel der Therapie.
Therapiefreie Zeit nutzen
Bis April 2024 hatte Lauerburg „Ruhe“. Er habe die Therapie-Pause sehr genossen, erzählt er, seine persönlichen Dinge geordnet, sei gereist und Rad gefahren. Die Sorge um das, was wird, könne er ausblenden, beteuert der 56-Jährige. „Das kann nicht jeder“, weiß sein Arzt. Doch er glaubt, dass der Wert therapiefreier Zeit oft unterschätzt werde. „Es gibt auch Kollegen, die hätten sofort eine Erhaltungstherapie angeordnet, die Chemotherapie nie wirklich beendet“, sagt Müller. Aber die Leitlinie für Darmkrebs empfehle es anders, es fehle der Beweis dafür, dass eine solche Erhaltungstherapie die Prognose für den Patienten wirklich verbessere. „Und unsere Philosophie lautet: Wenn es nicht sicher ist, dass es etwas bringt, machen wir es nicht.“
„Ich hupe nicht mehr, wenn mir jemand die Vorfahrt nimmt.“
Bei der Kontrolluntersuchung im April wurde ein starker Anstieg des Tumormarkers festgestellt. Die Leber war wieder voller Krebsherde. Lauerburg erhält seither eine neue Therapie, eine Kombination zwei verschiedener Tabletten. Beide sind nicht einmal neu auf dem Markt, aber erst im Januar 2023 bewies eine Studie, dass sie kombiniert verabreicht effektiver sind. Nebenwirkungen, sagt Lauerburg, habe er keine. Die ersten Kontrolluntersuchungen seien ebenfalls „positiv“ verlaufen.
Arzt: Keine Lösung für alle in Sicht, aber sehr viele neue Therapieoptionen
Und wenn er die aktuelle Therapie eines Tages doch nicht mehr verträgt oder sie nicht mehr wirkt? Gerade erst wurde auch bei uns „eine neue Pille aus China“ zugelassen, „Fruquintinib“, ein sogenannter „Tyrosinkinasehemmer“, berichtet sein Arzt. Insbesondere Darmkrebspatienten in einem weit fortgeschrittenen Krankheitsstadium, die auf andere Therapien nicht mehr ansprechen, sollen von dem neuen Medikament profitieren. Müller behandelt bereits erste Patienten damit, die Erfahrungen bislang seien gut. Er nennt zudem weitere „vielversprechende Ansätze“ zur Bekämpfung von Darmkrebs, in der Impfmedizin etwa („Biontech ist da schon ziemlich weit.“) oder neue „mikroinvasive OP-Techniken“. Es täte sich sehr viel. „Eine Lösung für alle“ werde es sicher niemals geben, andere Patienten müsse man zudem anders behandeln als Lauerburg. Aber das Portfolio wachse rasant.
„Ich hupe nicht mehr, wenn mir jemand die Vorfahrt nimmt“, sagt Nikolaus Lauerburg. „Aber ich hab nicht das Gefühl, dass bald Schicht ist. Ich lebe gut – nur eben mit Krebs.“ Denkt er nie an daran, was 2028 sein wird, ob er noch zu den Olympischen Spielen in Los Angeles wird reisen können? „Mache ich mir keinen Kopf drum“, sagt Lauerburg. „L.A. ist hässlich.“ Für die Winterspiele 2026 in Milano Cortina hat er schon gebucht.
>>> Info: Darmkrebs
Darmkrebs ist einer der häufigsten Tumoren. Jährlich erkranken rund 73.000 Menschen neu. Die Heilungschancen sind heute aber sehr viel besser als früher – und sie sind umso höher, je eher der Tumor entdeckt wird.
Erste Warnzeichen können Blut im Stuhl, krampfartige Bauchschmerzen, Durchfall oder anders verändertes Stuhlverhalten sein, aber auch Gewichtsverlust und Kraftlosigkeit.
Die Krankenkassen bezahlen Vorsorgeuntersuchungen: für alle ab 50 Jahren alle zwei Jahre einen Stuhltest; für Männer ab 50 und Frauen ab 55 wahlweise auch eine Darmspiegelung, zweimal mit mindestens zehn Jahren Abstand.
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