Essen/Nettetal. Mit Palliativmedizin sollte man sich in jungen Jahren befassen, sagt Krebspatientin Kristina Hardt. Es gehe dabei ums Leben, nicht ums Sterben.

Es war ihr erstes gemeinsames Silvester, der erste Jahreswechsel, den Kristina Hardt, damals 29, mit ihrem neuen Freund verbringen wollte – in eben jener Nacht des 31. Dezembers 2017 fing das Muttermal auf der rechten Bauchseite der Nettetalerin plötzlich zu bluten an. Und Kristina Hardts unbeschwertes Leben wurde zu einem Leben mit dem Tod vor Augen, einem Leben voller Abschiede. Auch wenn der Mann, mit dem sie in jener Nacht auf eine glückliche Zukunft hatte anstoßen wollen, noch immer an ihrer Seite ist.

Hardt, heute 35, wird inzwischen am Westdeutschen Tumorzentrum (WTZ) an der Uniklinik Essen behandelt – und wirbt dafür, die Möglichkeiten der Palliativmedizin bekannter zu machen. „Nicht nur Alte und Kranke, auch Junge sollten sich damit befassen“, versichert sie.

Plötzlich konnte die Kellnerin keine Flaschen mehr öffnen: Arthritis

Sie kämpft gegen den Krebs - und lebt im Drei-Monate-Rhythmus „von Bildgebung zu BIldgebung“, erzählt Kristina Hardt. 2018 wurde bei ihr Hautkrebs diagnostiziert. Inzwischen hat er gestreut.
Sie kämpft gegen den Krebs - und lebt im Drei-Monate-Rhythmus „von Bildgebung zu BIldgebung“, erzählt Kristina Hardt. 2018 wurde bei ihr Hautkrebs diagnostiziert. Inzwischen hat er gestreut. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

2017 studierte sie in Kiel, arbeitete an ihrem Master im Fach Ökotrophologie. Den Lebensunterhalt verdiente sie als Kellnerin, in ihrer Freizeit ging sie joggen und surfen. „Es waren meine glücklichsten Jahre“, sagt sie. Das Muttermal war lange auffällig, Hardts Dermatologe hatte es aber nur beobachten wollen. Noch bevor es zu bluten begann, ahnte die junge Frau: Da stimmt etwas nicht. „Ich fühlte mich nicht gut, litt unter Schüttelfrost und Nachtschweiß.“

Gleich im Januar 2018 wurde ihr das Mal entfernt: Es entpuppte sich als 0,88 Millimeter großer bösartiger Tumor, „relativ klein“, erklärt Hardt. Sie bestand dennoch darauf, dass die „Wächterlymphknoten“ entfernt wurden, die Hinweise auf eine Metastasierung des Krebses geben. Tatsächlich war einer schon befallen. Die Ärzte schlugen eine Immuntherapie vor, alle drei Wochen eine Infusion. Schon nach der dritten konnte Kristina Hardt, die doch „in der Gastro jobbte“, keine Flaschen mehr öffnen, „meine Gelenke waren vollkommen steif“. Und ihr Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag, „eigentlich lag ich nur noch im Bett“. Fünf Monate vergingen, bevor sie wusste, warum: Rheumatische Arthritis, eine Folge der Immuntherapie.

„Sechs bis neun Monate noch“, sagten die Ärzte der jungen Frau

Die Immuntherapie wurde gestoppt. Kurz darauf entdeckte Hardt eine kleine Hautveränderung, „erneut an der Flanke“, ein erstes Rezidiv, der Krebs war zurück. Und er hatte gestreut. Nach und nach fanden sich weitere Melanome, am Schienbein und an der Wade, dann weitere Rezidive – und 2019 Metastasen in der Lunge. Ein solch dramatischer Verlauf sei sehr untypisch für einen so jungen Menschen, sagten die Ärzte. „Nicht für einen, der in der Nähe des Atomwaffentestgeländes Semipalatinsk aufgewachsen ist“, fürchtet die Spätaussiedlerin. Sie wurde in Kasachstan geboren wurde, als ihre Familie nach Deutschland zog, war sie sieben.

Bestrahlung, Immun- und zielgerichtete Therapien folgten Operationen. Kristina Hardt lernte: Es ist ernst. Als sie nach einer Prognose fragte, sagte man ihr: sechs bis neun Monate. Das Studium hatte die Nettetalerin da längst abbrechen müssen, auch arbeiten konnte sie nicht mehr. Sie ist noch immer krank geschrieben. Selbst den Kinderwunsch hat sie „verschieben“ und immer mehr Einschränkungen hinnehmen müssen, sich von vielen Träumen und Plänen, dem gewohnten Alltag verabschieden müssen. Denn zur Arthritis gesellten sich andere schwere Nebenwirkungen der Therapien, eine schlimme Magenschleimhautentzündung etwa, die sie auf 45 Kilo abmagern ließ, Migräne und chronische Schmerzen. „Ich habe die letzten Jahre im Drei-Monate-Rhythmus gelebt“, erzählt Hardt. „Wenn eine Bildgebung okay war, sind wir ins Reisebüro und haben Urlaub gebucht.“

Dem Vater half ein auf Palliativpatienten spezialisiertes Pflegeteam

Augenblicklich steckt sie wieder in einer Therapiepause, am 13. November steht die nächste entscheidende Untersuchung an. Ein gutes Datum, findet Hardt, es ist der Geburtstag ihres Freundes. „Da kann ich ihm ein Geschenk machen.“ Ob sie Hoffnung hat, wieder ganz gesund zu werden? „Die Hoffnung darf man nicht verlieren“, sagt sie. Und falls sie nicht wieder gesund wird? „Weiß ich seit dem Tod meines Vaters im April, wo ich Hilfe finde.“

Der 56-Jährige wurde in seiner letzten Lebensphase durch ein SAPV-Team betreut, einen Dienst der „Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung“ „Die gibt es noch nicht flächendeckend, wir hatten sehr viel Glück, dass wir davon hörten. Nicht einmal unser Hausarzt wusste Bescheid“, erinnert sich Hardt. Als ihr Vater erfuhr, dass er an Gallenblasenkrebs litt, war es bereits zu spät, da steckte seine Leber schon voller Metastasen. In der Klinik hieß es irgendwann: „Wir können nichts mehr für sie tun.“ Das SAPV-Team konnte.

„Kaum jemand in meinem Alter denkt über den Tod nach“

Es kam einmal täglich, „oft öfter“, und kümmerte sich um alles, was zu erledigen war; besorgte die nötigen Verordnungen bei den Ärzten – und fehlende Medikamente oder Hygieneartikel gleich in der hauseigenen Apotheke. „Das Krankenbett lieferten sie sogar am Ostersonntag, nur einen Tag, nachdem wir sagten, es geht nicht mehr ohne“, erzählt Hardt. Für die Familie war das Team rund um die Uhr erreichbar. Zuletzt habe sie manchmal mehrmals in der Nacht angerufen, und gefragt, welche Tropfen sie dem Vater noch eben könne, „gegen seine Übelkeit oder damit er endlich schlafen kann“. Die Palliativ-Experten versorgten den Sterbenden, als dessen Schmerzen übermächtig wurden, auch mit Morphin; sie boten der Mutter psychologische Hilfe an; sprachen mit ihren Kindern über die ganz praktischen Dinge, die nach dem Eintritt des Todes zu erledigen seien. „Mein Vater“, erzählt Kirstina Hardt, „ist dann eines Nachts ganz friedlich zuhause eingeschlafen, mit einem Lächeln im Gesicht.“

„Dass wir das SAPV-Team an unserer Seite hatten, war das Beste, das uns passieren konnte“, denkt die 35-Jährige. Und sie bedauert, dass sie als Schwerkranke bis dahin nur wenig über Palliativmedizin wusste. Sie hätte ihr helfen können, weiß sie heute, die belastenden Folgen ihrer Therapien zu lindern. „Aber kaum jemand in meinem Alter denkt doch über den Tod nach. Doch man sollte es tun. Denn man muss kein Krebspatient sein, um Palliativmedizin zu benötigen. Das kann auch durch einen Unfall passieren, oder Corona.“

„Jede Tumorerkrankung birgt Abschiede“

 Privatdozentin Mitra Tewes ist die ärztliche Leiterin der Palliativmedizin der Essener Universitätsmedizin – und damit Chefin eines interdisziplinären Teams, zu dem auch Pflegekräfte, Psychologen, Sozial- und Hospizdienst gehören.
Privatdozentin Mitra Tewes ist die ärztliche Leiterin der Palliativmedizin der Essener Universitätsmedizin – und damit Chefin eines interdisziplinären Teams, zu dem auch Pflegekräfte, Psychologen, Sozial- und Hospizdienst gehören. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Tatsächlich, sagt die Palliativ-Expertin Mitra Tewes, sei ihr Fachgebiet noch immer ein Tabuthema. Die Privatdozentin ist ärztliche Leiterin der Palliativmedizin der Universitätsmedizin Essen (UME), koordiniert dort ein „multiprofessionelles und kultursensibles“ Team aus Ärzten, Pflege, Psychologen, Sozial- und Hospizdienst. „Wir müssen viel mehr und vor allem viel früher über dieses Thema reden“, stimmt sie Kristina Hardt zu. „Jede Tumorerkrankung birgt Abschiede, selbst wenn sie geheilt werden kann. Und es geht in der Palliativmedizin nicht um den Tod. Der kommt, aber davor steht das Leben!“

Weshalb Palliativmedizin eben auch nicht mit Sterbe-Begleitung gleichzusetzen sei. Viele der 250 Patienten, die jährlich auf der Palliativstation im WTZ stationär versorgt werden, gingen wieder heim. „Das ist keine Sterbestation. Palliativversorgung heißt nicht, dass ich bald tot bin“, versichert die Onkologin. „Wir fokussieren uns auf die Symptome von nicht heilbaren Erkrankungen – und behandeln auch auf die von potenziell heilbaren, wenn sie stark sind.“

Sie ermuntert daher, „alle, die Not und Symptome haben“, in die palliativmedizinische Sprechstunde der WTZ-Ambulanz zu kommen; einige Krebspatienten begleitet sie dort schon seit sieben Jahren; der palliativmedizinische Dienst bietet zudem allen stationären Patienten Unterstützung an; ein „Palliativ-Screening“ hilft Bedarfe frühzeitig zu erkennen. Manche Neuerkrankte erschreckten beim ersten Kontakt, fragten ängstlich: Ist es schon soweit, räumt Tewes ein. „Aber wenn wir erst einmal da waren, sind die meisten so dankbar“. Um die Linderung von Schmerzen geht es oft, oder um die Folgen einer Chemo-Therapie. Aber auch Ernährungs - und Versorgungsfragen werden von der Palliativmedizin gelöst. Was und wann immer es nötig ist. „Palliativmedizin ist wie ein warmer Mantel“, erklärt Tewes. „Man legt ihn an, wenn es kalt ist. Und wieder ab, wenn man ihn nicht mehr braucht.“

>>>>INFO: WTZ-Aktionstag

Am 21. Oktober, ab 15 Uhr, lädt das Westdeutsche Tumorzentrum zu einem „Aktionstag“ ein. Titel der Infoveranstaltung: „Leben mit Abschied – Wissen gibt Halt“. Es werden neben kurzen Vorträgen von Spezialisten aus dem Palliativbereich Workshops angeboten, zu Themen wie „Umgang mit Luftnot“, „Morphin-Therapie“ oder „Schwerkranke begleiten (für Angehörige) und „Abschied gestalten“. Hospizdienst und SAPV werden vorgestellt. „Alle Angebote sind dabei von der Patientenseite aus gedacht“, verspricht Mitra Tewes, das Programm wurde zusammen mit dem Patientenbeirat des Hauses erarbeitet.

Info und Anmeldung: wtz.nrw/aktuelles/veranstaltungen/