Essen. Im „WAZ-Talk“ erzählt Julia Gajewski vom erschütternden Alltag an ihrer Brennpunkt-Schule, vom Aufwachsen in Armut – und woran es wirklich fehlt.

Der Neubau der „Bockmühle“, für den Julia Gajewski so lange, so hart gekämpft hat – er wird wohl erst fertiggestellt sein, wenn sie in Rente geht. „Und mein Job“, sagt die Essener Gesamtschulleiterin, „der ist dann noch lange nicht fertig.“ In der dritten Folge des WAZ-Talks mit Chefredakteur Andreas Tyrock („Ruhrgebiet, wir müssen reden!“) fand die 59-Jährige deutliche Worte der Kritik am System – und viele liebevolle für ihre Schüler und Schülerinnen sowie für ihre 160 Mitarbeiter. Sie forderte mehr finanzielle Unterstützung für die ungeliebten, „vergessenen“ Gesamtschulen, vor allem aber mehr Wertschätzung „für diesen Teil der Gesellschaft“ – für Kinder, die in Armut leben, und denen doch die Teilhabe ermöglicht werden müsse. „Und damit meine ich jetzt nicht, dass alle ein Handy bekommen“, stellte Gajewski klar.

Die Zahlen sprechen für sich: 1450 Schüler besuchen die „Bockmühle“; 80 bis 90 Prozent kommen mit Hauptschulempfehlung, 70 bis 80 Prozent haben Migrationshintergrund, 60 Prozent leben in „prekären“ Familienverhältnissen, in Armut. Der Stadtteil Altendorf, in dem die „Bockmühle“ 1972 als erste Gesamtschule Essens errichtet wurde, gilt als sozialer Brennpunkt. Gewalt auf dem Schulhof gehört zum Alltag, Konflikte friedlich zu lösen haben viele Kinder hier nie gelernt. „Warum“, will Andreas Tyrock zu Beginn von Julia Gajewski wissen, „tun Sie sich das an?“ – „Ich finde es nicht gut, wie es den Kindern und Jugendlichen dort geht“, antwortet die Schulleiterin.

„Diese Kinder gehören doch zu uns“

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Vor 23 Jahren kam sie an die „Bockmühle“ – und noch immer gehe sie gern hin, „an fast jedem Tag“, erzählt sie. Ihre Aufgabe sei eine anstrengende, aber zutiefst erfüllende. „Diese Kinder gehören doch zu uns, und wir können konkret Tag für Tag etwas für sie tun.“ Jede Unterrichtsstunde beginne mit Konfliktklärung, ende aber „hoffentlich“ mit Erkenntnisgewinn. Jede Klasse entscheidet dabei selbst, woran gerade gearbeitet wird, das ist Teil des Erfolgskonzepts. An der Altendorfer Gesamtschule machen 15 Prozent eines jeden 10. Jahrgangs das Abitur – und viele mehr sehr viel bessere Abschlüsse als prognostiziert.

Julia Gajewski im WAZ-Video-Studio in Essen.
Julia Gajewski im WAZ-Video-Studio in Essen. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Manche gehen aber auch ganz ohne Abschluss, und diese Erfahrung nennt die Schulleiterin, früher erfolgreiche Basketballtrainerin, „bitter“: Diese Kinder gingen einer Gesellschaft verloren, die gleichzeitig Fachkräfte aus dem Ausland hole. „Doch selbst, wenn wir alles geben, fehlt es an vielem.“ Gajewski fühlt sich „hängengelassen“ von einer Schulpolitik, die nicht genau hinschaue, die – historisch gewachsen – das Gymnasium noch immer als beste Schulform betrachte, darüber die Gesamtschulen als „hervorragende Schulform für alle Kinder liegengelassen“ habe. „Die finanzielle Unterstützung ist abhängig von den Möglichkeiten einer Kommune, das sehe ich – und da bin ich unterwegs. Aber wir brauchen so viel mehr.“ Eine gesellschaftliche „Durchmischung“ und mehr positive Vorbilder an ihrer Schule etwa, nicht nur schwierige Klientel samt „abgeschulter“ Gymnasiasten.

176 der 1450 Schüler und Schülerinnen haben „Förderbedarf“

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Sie nennt ihre „alleinerziehende“ Schule „die größte Förderschule Essens“, 176 Schüler und Schülerinnen hätten Förderbedarf. „Da sitzen in einer Klasse zwei Kinder mit geistiger und zwei mit Lernbehinderung, alle vier auch emotional-sozial auffällig, und dazu 24 andere“ – von denen ein paar zuhause geschlagen oder missbraucht würden, hungern müssten, traumatisierte Flüchtlinge seien. „Und mit diesem ganzen Block müssen wir dann umgehen, jedem einzelnen gerecht werden.“ Wolle man das Problem lösen, brauche es „ganz krass bessere Bedingungen für solche Schulen“. Kleine Klassen und Lehrer-Doppelbesetzungen etwa.

Denn als wegen Corona nur die Hälfte der Schüler einer Klasse gleichzeitig in Präsenz unterrichtet werden durfte, habe sich deutlich gezeigt, dass die Gruppengröße sehr wohl einen Unterschied mache. „14 Kinder 60 Minuten lang zu unterrichten, jeden einzelnen Schüler wahrnehmen zu können, ohne Konflikte lösen zu müssen – das war ein echtes Aha-Erlebnis für mich.“

„Nicht die Lehrer brauchen mehr Geld...“

Doch es fehlen schon jetzt bundesweit 35.000 Lehrer. Und von denen, die es noch werden, streben nicht viele an eine Brennpunktschule im Revier. Sie allein mit finanziellen Anreizen nach Altendorf, Gelsenkirchen oder Duisburg zu locken, hält Gajewski für keinen Ausweg. „Die A13-Angleichung ist gut, aber nicht die Lehrer brauchen mehr Geld...“. In die Schulen selbst müsse „unfassbar viel“ investiert werden.

Julia Gajewski graut vor dem Herbst, wenn zur Corona-Krise die der explodierenden Preise kommt. „Alles wird teurer, aber die Leute verdienen nicht mehr“, und in den wegen des Virus ständig zu lüftenden Klassenräumen müsse womöglich wieder bei neun Grad unterrichtet werden. Im vergangenen Jahr belegte die „Bockmühle“ in einem Wettbewerb Platz 2 der kältesten Schulen im Land. „Aber: Schule kalt, zuhause kalt – das wird ganz schnell schwierig, senkt die Frustrationstoleranz, macht aggressiv.“ Die Schulen erneut zu schließen, sei dennoch keine Alternative. „Wir saßen damals da“, erinnert sich Gajewski, „mit Migrantenkindern, die nach den Lockdowns kein Wort Deutsch mehr sprachen, in der Oberstufe!“

Mehr Mut, mehr Solidarität

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2018 erhielt Julia Gajewski („für mein ganzes Team“) den „Talent-Award“ des Initiativkreises Ruhr. Auch jenseits solcher Preise fehle es nicht an Anerkennung für ihre Arbeit, sagt sie. Aber an Wertschätzung für ihre Schüler und Schülerinnen. Die müssten merken, dass man sich um sie kümmert, sie ernst nimmt, dass sie „dazugehören“. Sie wünscht sich mehr gesellschaftliche Solidarität, aber auch mehr Mut von anderen Kollegen, Missstände offen anzusprechen – sowie sie es ohne Scheu tut.

„Fürchten Sie keine dienstrechtlichen Konsequenzen?“, fragt An-dreas Tyrock am Ende des Interviews. „Doch, natürlich“, sagt die streitbare Schulleiterin lachend. „Gab es aber noch nie.“

Die Warteliste derjenigen, die ihren Job übernehmen wollen, ist nicht sehr lang.

Weitere Folgen von „Ruhrgebiet, wir müssen reden!“

Folge 1: Martina Merz, Thyssenkrupp-Chefin

Folge 2: Christian Stratmann, Theatergründer und -Prinzipal des „Mondpalasts“

Folge 3: Julia Gajewski, Schulleiterin in Essen-Altendorf

Folge 4: Gerald Asamoah, Schalke-Legende

Folge 5: Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen

Folge 6: Katharina Bach, Aufsichtsrätin von Lern-Fair.de