Dortmund/Bochum. Siebenjährige aus Dortmund lacht gegen Gendefekt an. Wie der Kinderhospizdienst Mädchen wie Hannah hilft – und ihrer ganzen Familie.

„Ich bin sieben Jahre alt“, sagt Hannah. „Ich mag gern Tiere. Ich spiele gerne draußen.“ Ihre Sätze fangen alle mit „ich“ an, und sie spricht sie nicht selbst. Das macht ein Computer für das Kind, die Eltern haben das Wichtigste eingespeichert. Oma und Opa, Mama und Papa, die Geschwister gibt es auch auf dem Bildschirm, Hannah könnte ganze Geschichten erzählen nur mit den Augen. Aber das fällt ihr noch schwer, und selbst sprechen kann sie gar nicht: Hannah aus Dortmund hat das Rett-Syndrom, einen Gendefekt, der meist bei Mädchen die Entwicklung des Nervensystems stört.

Nicht, dass Hannah ohne Sprache leise wäre. Da sitzt sie auf dem Sofa, schaukelt vor und zurück, dass ihre blonden Zöpfe fliegen, sie lacht viel und macht Töne, die zuweilen wie Ächzen klingen, aber ihre Mutter sagt: „Sie ist zufrieden. Sie ist meistens zufrieden. Und wenn sie mit etwas nicht einverstanden ist, hört man das.“ Auf ihrem Tablet streichelt der Bauer gerade die Kuh Mathilde, Hannah wippt aufgeregt, Mutter Alexandra sagt: „Damit reguliert sie sich.“ Die Familie nennt die Bewegung „Bockeln“. Manchmal knirscht das Kind so laut mit den Zähnen, dass die der Erwachsenen schmerzen – es gehört zum Syndrom wie das verkrampfte Verdrehen der Hände. „Händewaschen“, sagen Laien, „Handstereotypie“ Experten.

Schwesternliebe: Hannah (7) mit ihrer großen Schwester Amy (11).
Schwesternliebe: Hannah (7) mit ihrer großen Schwester Amy (11). © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Kinderarzt hielt das Baby lange für „völlig normal“

Hannah kam im Frühsommer 2016 als gesundes Kind auf die Welt, zumindest dachten die Eltern das. Für Mutter Alexandra war es das dritte, sie erwartete, sicherer zu sein, aber „ich habe mich nicht sicher gefühlt“. Etwas war anders, „ich konnte aber nicht sagen, was“. Hannah bekam eine Lungenentzündung, da war sie drei, vier Monate alt; im zweiten Lebensjahr fiel auf, dass das Mädchen seltener Blickkontakt hielt. Sprechen lernte es kaum. Bei einem Test verhielt es sich wie ein Kind mit Autismus. Trotzdem sagten Tagesmutter und Kinderarzt, Hannah sei völlig „normal“, „gesund entwickelt“ – „die üblichen Sprüche“, sagt Alexandra T. Sie selbst spürte: „Irgendetwas stimmt da nicht.“

Es sollte dreieinhalb Jahre dauern, bis sie eine Diagnose hatte. Die Ärzte untersuchten Hannahs Ohren, sie tippten auf Wahrnehmungsstörungen, verschrieben Ergo-Therapie, schoben das Kleinkind ins MRT, untersuchten das Gehirn. Im Januar 2020 fiel der Dreijährigen das Laufen schwerer, sie begann zu hyperventilieren, im Frühjahr hatte sie ihren ersten epileptischen Anfall. Zweimal krampfte das Kind an einem Tag, danach nicht wieder, ein Glück: Epilepsie kann tödlich sein. In der Dattelner Kinderklinik erkannten die Ärzte das Rett-Syndrom. Sie erklärten das so: Die kleinen Patienten sind gefangen im eigenen Körper.

Bange Fragen: „Hätte man das verhindern können?“

„Rett-Mädchen“, sagt ihre Mutter heute wie selbstverständlich, aber so einfach war das nicht. „Es bricht eine Welt zusammen, wir waren geschockt.“ Und sofort kamen die quälenden Fragen: „Was kann man da machen? Wie geht es jetzt weiter? Wo finden wir Hilfe?“ Und immer wieder diese: „Hätte man das verhindern können?“ Es gab Menschen in ihrem Umfeld, die sagten: „Mit 38 Jahren kann sowas ja schon mal passieren.“ Als Familie, sagt Nicole Bieri von den Deutschen Kinderhospiz-Diensten, sei man zunächst „allein und isoliert“.

Geschichten über Hannah selbst, Oma und Opa und die Kuh Mathilde: Mithilfe eines Computers lernt das Mädchen sich auszudrücken.
Geschichten über Hannah selbst, Oma und Opa und die Kuh Mathilde: Mithilfe eines Computers lernt das Mädchen sich auszudrücken. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Beim Ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst „Löwenzahn“ fand Alexandra T. Verständnis – und Hilfe. Tochter Amy (11) geht in die Kindergruppe, eine Ehrenamtliche geht mit Hannah spazieren, sie selbst zum Mütter-Frühstück. Da, sagt auch Nicole Bieri, „braucht man nicht viele Worte, man kann sich austauschen und den Tränen freien Lauf lassen“. Sie hat selbst ein erwachsenes „Kind“ mit Behinderung, sie weiß, wie man lebt „mit enormer Erschöpfung“. Bieri kennt Auszeiten, möglich gemacht durch ein Kinderhospiz, wo sie mit Lesestoff hinging – und dann nur geschlafen und gegessen hat.

Wobei, Hospiz? Das klingt nach nahem Tod, oft muss Alexandra T. damit aufräumen, wenn Leute entsetzt fragen: „So schlimm ist es schon?“ Hannah ist tatsächlich „lebensverkürzend erkrankt“, das heißt so. Es heißt aber nicht, dass sie bald sterben wird; bedrohlicher ist für ihre Mutter der Gedanke, dass ihr Kind sie überleben könnte. Man hat ihr klar gesagt, dass Rett-Kinder „nie alleine leben können“. Diese Fragen machen ihr Angst: „Wie lange bin ich fit, dass ich das Kind versorgen kann? Ist es noch gut bei mir aufgehoben?“

„Wo wäre Hannah heute“ ohne das Rett-Syndrom?

Es ist ja nicht so, wie ihr die Leute sagen: „Wird schon wieder besser. Es kommen bessere Zeiten.“ Sie kommen eher nicht, das weiß Alexandra T. Obwohl sie nicht aufgibt: „Die Hoffnung ist immer da, dass Hannah sich doch noch entwickelt.“ Die Mutter ist in die Situation hineingewachsen, aber sie erlebt auch Tage, da hat sie einen dicken Kloß im Hals: wenn sie andere Kinder sieht. Als sie von der Kita in die Grundschule wechselten, weinte sie viel: „Wo wäre Hannah heute, wenn sie nicht dieses Syndrom hätte? Es ist nicht mal eben so zu verarbeiten.“

„Der Kampf um Hilfsmittel ist oft anstrengender als die Pflege“: Nicole Bieri von den Deutschen Kinderhospiz-Diensten unterstützt Alexandra T.
„Der Kampf um Hilfsmittel ist oft anstrengender als die Pflege“: Nicole Bieri von den Deutschen Kinderhospiz-Diensten unterstützt Alexandra T. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Doch „Löwenzahn“ hilft nicht nur der Seele. „Der Kampf um Hilfsmittel ist oft anstrengender als die Pflege“, sagt Betreuerin Nicole Bieri. Gerade streiten sie für einen Parkausweis in der Ausführung G wie „gehbehindert“. Nicht dass Hannah nicht laufen könnte, sie bemüht sich schon, und es sieht anstrengend aus, wie sie die Füße setzt, manchmal kreuz und quer und am liebsten auf Zehenspitzen. Aber deshalb kommt es vor, dass sie an einer Straßenecke einfach nicht mehr kann und will. Man muss sie dann mit etwas abholen, das rollt. Auf dem Klageweg versucht die Familie auch, ein Therapiedreirad zu bekommen. Es würde Hannah helfen, ihr Gleichgewicht zu verbessern, ihre Koordination, ihre Bewegungen. „Und es macht Spaß!“

Hannahs Mutter will auch auch den anderen beiden Kindern gerecht werden

Neben der Bürokratie stemmt der Kinderhospizdienst auch Unterstützung für die ganze Familie. Alexandra T.s Ältester ist inzwischen 21, Tochter Amy elf Jahre alt. Auch ihnen wollte und will sie gerecht werden, aber das ist schwierig, manchmal fühlte sich die 44-Jährige überfordert. Ihren Beruf als Intensiv-Krankenschwester hat sie aufgegeben, sie arbeitet jetzt 20 Stunden in der Woche in der Qualitätskontrolle einer Krankenkasse und lernt langsam, „mal wieder etwas für mich zu tun“. Ein Hobby, die knappe Freizeit will sie nicht mehr nur „damit verbringen, Widersprüche zu schreiben“.

Hannah versteht, was man ihr sagt, davon, dass sie anders ist als andere Kinder, versteht sie wohl nicht viel. Sie geht gern in die Förderschule, jeden Morgen holt der Bus sie um zehn vor sieben ab. Ferien zuhause findet sie blöd. Wenn sie spazieren gehen will, macht sie die Tür auf oder setzt sich in den großen Buggy. Wenn nicht, dann nicht. Dass Hannah mobil ist, nennt ihre Mutter „Segen und Fluch“ zugleich. Denn es bedeutet auch, dass sie überall hinrennt, dass sie Essen von anderleuts Tellern holt, wenn sie das leckerer findet, und dass sie Klettern liebt. Im alten Haus überwand sie den niedrigen Zaun locker. Schwester Amy sagt, sie liebt mit Hannah vor allem das Trampolinspringen.

Schule aus! Hannah kommt nachmittags erst nach vier Uhr nach Hause. Sie liebt die Schule.
Schule aus! Hannah kommt nachmittags erst nach vier Uhr nach Hause. Sie liebt die Schule. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Alexandra T.: „Man macht das alles einfach, ich bin die Mutter!“

„Das Kind soll leben, wie es ist“, sagt Alexandra T. Sie möchte an ihrer Tochter „möglichst wenig herummanipulieren“. Aber was tut man dafür, dass es Hannah gut geht? Lässt man sie auf Zehenspitzen gehen und riskiert, dass verkürzte Sehnen bald operiert werden müssen? Oder quält man das Kind in die plumpen und drückenden orthopädischen Schuhe? Lässt man sie essen ohne Lätzchen, oder darf alles überall verteilt werden? Was tut man gegen ihre schlechte Haltung, dagegen, dass sie neuerdings Luft herunterschluckt, dass sich ihr Bauch unnatürlich aufbläht? Abends schläft Alexandra T. erschöpft ein, nachts wird sie wach und stellt sich die nächsten Fragen.

„Normale“ Eltern, eigentlich mag Alexandra T. das Wort nicht, machten sich vielleicht Sorgen, wie es in der Schule läuft. „Wir haben immer noch ein Päckchen obendrauf.“ Dabei ist es nicht so, dass sie klagen würde, sie erzählt das alles nur, weil sie gefragt wird. Und weil sie dankbar ist für die Hilfen, die sie bekommt. „Man funktioniert und hofft, dass jeder Tag gut wird.“ Ihr Kind abzugeben, wäre für die 44-Jährige undenkbar. „Man macht das alles einfach, ich bin die Mutter!“ Um den Hals hat sie eine Kette, das silberne Herzchen trägt eine Gravur: „Beste Mama“.

Leben mit dem Rett-Syndrom: Hannahs (7) Geschichte

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    >>INFO: KINDER-LEBENS-LAUF ERREICHT AM 13. MAI DAS RUHRGEBIET

    Allein in Dortmund leben rund 300 schwerstkranke Kinder und Jugendliche, die möglicherweise nie erwachsen werden. Sagt der Ambulante Kinder- und Jugendhospizdienst „Löwenzahn“, dessen mehr als 100 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffene Familien seit Jahren betreuen. Derzeit gibt es 69 solcher Begleitungen, 44 Kinder und Jugendliche machen in drei Geschwistergruppen mit.

    „Löwenzahn“ lädt am Dienstag, 14. Mai, 10 bis 15 Uhr, zu einem Tag der Offenen Tür ein. Anlass ist der Kinder-Lebens-Lauf des Bundesverbands Kinderhospiz, dessen „Engelsfackel“ am Tag zuvor in der Stadt ankommt. Seit Mitte April sind Läufer durch 100 deutsche Städte unterwegs, um auf die Arbeit der Hospizeinrichtungen für Kinder mit lebensverkürzenden Erkrankungen aufmerksam zu machen.

    Von „Löwenzahn“ aus (Dresdener Straße 15, Hinterhof) macht sich der Dortmunder Marathoni Guido Pieper auf zur gleichnamigen Einrichtung in Bochum, wo die Fackel am Mittwoch, 15. Mai, erwartet wird. Nächste Station ist am Donnerstag, 16. Mai, Castrop-Rauxel.

    Das Rett-Syndrom ist ein Gen-Defekt, der meist bei Mädchen auftritt und zu Entwicklungsstörungen des Gehirns führt. Betroffene Kinder entwickeln sich im ersten Lebens-Halbjahr zunächst normal, später gehen Sprach- und soziale Fähigkeiten zurück, auffällig sind verkrampft aussehende Körperhaltungen besonders der Hände (repetitive Handbewegungen) und Gangstörungen. Auch Atemprobleme und Krampfanfälle können vorkommen.

    Ambulanter Kinderhospizdienst Löwenzahn Dortmund, Spenden: DE71 4416 0014 6576 7958 01 | Volksbank Dortmund