Gelsenkirchen. In der Kinderhospizarbeit fehlen Plätze, denn der Bedarf nimmt zu. Ein Besuch in der Gelsenkirchener Arche Noah, wo auch Eltern Hilfe finden.

„Er kann jetzt alle Farben sehen und barfuß durch die Wolken gehen.“ Der Junge wurde sechzehn Jahre alt, fast siebzehn. Seine Seite im Erinnerungsbuch auf dem Schrank ist aufgeschlagen – für manche Eltern, die dieses Büro im Gelsenkirchener Kinderhospiz Arche Noah betreten, bietet diese Erinnerung vielleicht einen Anknüpfungspunkt. Wie sollen sie damit umgehen, dass auch ihr Kind bald sterben könnte? Einige rechnen in Wochen, viele hoffen auf Jahre oder gar Jahrzehnte. Denn im Kinderhospiz geht es häufiger darum, Familien zu entlasten, die ihre schwerst kranken Kinder pflegen.

„Ich habe schon in der Schwangerschaft erfahren, dass Viola eine Behinderung hat“, sagt Nadine Brockers. „Damals habe ich schon einen Termin hier gemacht. Das ist nun fast sieben Jahre her.“ Nun nimmt sie etwa alle zwei Monate die Hilfe der Arche Noah in Anspruch, meist für Tage, mal für zwei, drei Wochen. 14 Plätze hat die Einrichtung des Marienhospitals, auch für Kurzzeitbetreuung, das ist weiterhin selten. Wenn Viola nun durch die Tür kommt, „sagt sie nicht mal mehr Tschüss“, erklärt die Mutter. „Sie läuft sofort zur Schaukel.“ Und das ist an sich schon ein Wunder.

Wird Viola vielleicht gar sprechen lernen?

Nadine Brockers in einem Spielraum der Arche Noah.
Nadine Brockers in einem Spielraum der Arche Noah. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Dass Viola laufen gelernt hat, damit hätten viele kaum gerechnet, sagt die Pflegedienstleiterin Anja Dörner. Und nun hoffen sie sogar, dass sie noch etwas sprechen lernt. Zwei drei Namen kann sie schon richtig anwenden. Kleine Wunder geschehen täglich in der Arche Noah. Die Liste von Violas Beeinträchtigungen ist lang. Zum Beispiel entsteht in ihren Hirnkammern zu viel Flüssigkeit, die über ein Schlauchsystem abgeführt wird. Sie verweigert Nahrung und wird über eine Sonde ernährt, sie muss bei jeder Mahlzeit eine Stunde still sitzen. Damit das klappt, muss Viola abgelenkt werden. Und jeder Krampfanfall ist lebensbedrohlich.

Im Sommer haben sie einen Ausflug in den Zoom gemacht, fast die komplette Arche. Für jedes Kind ist eine Begleitung dabei, im Fall von Viola mit Rollstuhl, Sauerstoffflasche und Maske, Absauggerät für Erbrochenes und dergleichen. Viola hat sich tapfer geschlagen, ist viel gelaufen, auf Socken, denn sie verabscheut Schuhe, immer wieder in die Pfützen. Dritte Ersatzsocke, alles Sonnenschein.

„Und gerade hatten wir uns durch die Afrika-Welt geschlagen, wollten uns hinsetzen, um ihr Nahrung zu geben, da hat sie angefangen zu krampfen“, erzählt Alina Schmitt, die Leiterin der Arche Noah. Dann setzt Violas Atmung aus, sie läuft blau an in kürzester Zeit – wenn ihr nicht rechtzeitig das Notfallmedikament in den Mund gespritzt wird.

Großer Auflauf beim Einkauf

Solche Situationen erlebt Nadine Brockers öfter. Wenn plötzlich ein Kindum sein Leben ringt, ist der Auflauf natürlich groß, das hat natürlich einen Effekt auf die Schwester. „Sie liebt Viola heiß und innig, aber sie wünscht sich auch, dass wir mal einfach alleine shoppen gehen können.“ Und genau das ermöglicht das Kinderhospiz: „Ich kann mal ausschlafen, kann Sachen erledigen, kann mit der Großen Sachen machen, sie ist ja in der Pubertät.“

Alina Schmitt (vorne) leitet die Arche Noah, Anja Dörner ist zuständig für den Pflegedienst. 
Alina Schmitt (vorne) leitet die Arche Noah, Anja Dörner ist zuständig für den Pflegedienst.  © Arche Noah | Volker Wiciok

In Deutschland leben wahrscheinlich 50.000 Kinder und Jugendliche mit lebensbegrenzenden Erkrankungen. Jährlich sterben etwa 5000 Betroffene. Diese Zahlen basieren allerdings auf einer englischen Studie von 2012, erklärt der Bundesverband Kinderhospiz. Es gehört zu seinen politischen Forderungen, den Bedarf in Deutschland besser zu bestimmen, denn der nimmt wohl zu. „Durch den medizinischen Fortschritt leben viele lebensverkürzend erkrankte Kinder länger“, so Geschäftsführerin Franziska Kopitzsch.

Am Freitag ist der Tag der Kinderhospizarbeit (hier mehr). Zu diesem Anlass fordert der Verband „mehr Barrierefreiheit, neue Wohnformen für junge Erwachsene sowie eine bessere Finanzierbarkeit dringend benötigter Hilfsmittel, die die Teilhabe der Kinder und Heranwachsenden sicherstellen“, erklärt Kopitzsch. „Auch müssen bürokratische Hürden für Eltern gesenkt werden. Viele Regelungen der Pflege- und Krankenkassen sind noch nicht auf diese Zielgruppe ausgelegt.“

Es gibt in Deutschland 18 stationäre Kinderhospize wie die Arche Noah, einige teilstationäre Einrichtungen und etwa 180 ambulante Dienste. Auch Claudia Middendorf, Beauftragte der Landesregierung für Menschen mit Behinderung, sagt: „Von einer ausreichenden palliativmedizinischen Versorgung sind wir noch weit entfernt. Ohne die Mitarbeit der vielen Ehrenamtlichen wäre eine angemessene Sterbebegleitung nicht möglich.“

Das Personal ist knapp

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Doch gerade das Ehrenamt ist im Wandel. „Wir sehen einen deutlichen Trend zu mehr Kurzzeit-Engagement“, sagt Franziska Kopitzsch. Dabei könne nur „über den langfristigen Einsatz eine Vertrauensbasis zu den Familien geschaffen“ werden. Zudem litten die Kinderhospizeinrichtungen unter dem gleichen Personalnotstand wie überall – und dies wiederum erschwere es, Ehrenamtliche zu gewinnen.

In der Gelsenkirchener Arche Noah haben sie die Pandemie und die Krankheitswellen im Winter natürlich ebenfalls gespürt. „Aber wir haben bislang jede Stelle besetzt bekommen“, sagt Pflegedienstleiterin Anja Dörner. „Es erfordert aber Kraftanstrengungen.“ So gibt es Kooperationen mit anderen Pflegeeinrichtungen in der Ausbildung, aber das organisiert sich nicht von allein. Und bei den Pädagogen gibt es Fluktuation, „auch wegen der Arbeitszeiten“, die im Kinderhospiz ungewöhnlicher ausfallen

Denn ein normaler Tag mit Viola sieht in der Arche nicht viel anders aus als Zuhause: Nachts muss die Mama mehrfach aufstehen, wenn Viola zum Beispiel ein Kabel herausgerissen hat. Um sechs Uhr dann kommt (seit kurzem) der Pflegedienst, der sie auch zur Schule fährt und dort betreut. „Meine Mutter hilft mit, soweit sie kann“, sagt Nadine Brockers. „Aber sie hat Angst, wenn Viola krampft, weil sie dann nicht mehr atmet. Und bei den Mahlzeiten erbricht sie oft“ – die Großmutter passt also immer wieder zwischen den Mahlzeiten auf für zwei Stunden. „Eine Freundin, deren Sohn ebenfalls schwer krank ist, ist die Einzige, zu der ich Viola auch länger hinbringen kann.“

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In der Arche Noah hat Viola mehr Freiraum in einem gefahrloseren Umfeld. Sogar die Büros stehen offen. Für Viola sind sie eine Art Zufluchtsort. „Haare föhnen ist ihr Endgegner“, sagt Alina Schmitt. „Danach kommt sie sofort ins Büro und auf den Schoß.“

Das Büro, ein Zufluchtsort

In den Büros der Arche hat auch ihre Mutter oft gesessen und geredet. Denn das ist auch Teil der Aufgabe: die Angehörigen zu begleiten, die oft nicht viele Menschen haben, die ihre Lage verstehen. „Wenn ich meine Sorgen jemandem erzähle, der ein gesundes Kind hat“, sagt Nadine Brockers, „dann höre ich oft: Ach, das wird schon wieder besser.“ Aber das passt nicht zur Erfahrungswelt der Betroffenen, die sich lange auf den Abschied vorbereiten. Und wenn er kommt, empfinden viele ihr Leben auch als leichter. „Die meisten Eltern hier reden anders darüber, als diejenigen, die ihr Kind durch einen Unfall oder eine kurze Krankheit verlieren“, sagt Anja Dörner. Für alle hier ist es eine Gratwanderung zwischen Kinderlachen und Trauer, und was auf diesem Weg geschieht, beschreibt das Motto der Arche ganz trefflich: Liebe zum Leben.