Bochum. Varsha hat eine seltene Krankheit, ohne Hilfe geht nichts. Einblick in den Alltag mit Behinderung – und wie die Bochumer Familie ihn meistert.

„Mein Tag hat 24 Stunden“, erzählt die Bochumerin Biruntha Bangajan, während ihre Tochter Varsha im Hintergrund in unaufgeregter Beharrlichkeit die Türen einer Spielzeug-Küche auf- und zumacht. Die Elfjährige, deren Name aus Sri Lanka kommt, hat einen seltenen Gendefekt: das „5p-minus-Syndrom“, früher auch als „Cri-du-chat-“ oder „Katzenschrei-Syndrom“ bezeichnet. Im Gespräch mit der WAZ-Redaktion berichtet die Familie von den Herausforderungen des Alltags – und darüber, wie die Lebenshilfe Bochum sie dabei unterstützt.

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Bei betroffenen Personen ist die Struktur des fünften Chromosoms verändert, was weitreichende Folgen hat. Ein Symptom bei Kleinkindern mit diesem Gendefekt ist unter anderem ein schriller, katzenartiger Schrei, der auf eine Fehlbildung des Kehlkopfes zurückgeht und dem Syndrom seinen Namen verleiht. Die Krankheit ist vererbbar, kann allerdings auch spontan entstehen. „Gott sei Dank ist sie sehr selten“, sagt Biruntha Bangajan – sie tritt lediglich bei einer von 40.000 Geburten auf.

Lange war unklar, welche Erkrankung Varsha eigentlich hat

Bei Varsha dauerte es eine Weile, bis der Gendefekt, der eine geistige und körperliche Behinderung zur Folge hat, als solcher identifiziert wurde: „Sie war eine Frühgeburt und es hieß erst: Wir wissen nicht genau, was sie hat“, berichtet Bangajan. Es folgten „tausende Untersuchungen“ und es sei unklar gewesen, ob Varsha überlebt. Der Alptraum einer jungen Mutter.

Immer für ihre Tochter da: Die Bochumerin Biruntha Bangajan ist stolz darauf, wie gut sich Varsha trotz ihrer Erkrankung entwickelt hat.
Immer für ihre Tochter da: Die Bochumerin Biruntha Bangajan ist stolz darauf, wie gut sich Varsha trotz ihrer Erkrankung entwickelt hat. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

„Ich habe den Ärzten gesagt: Ich gehe jetzt nach Hause mit dem Kind und päppel sie auf, komme, was wolle.“ Gesagt, getan. Entgegen der Erwartungen konnte Varsha mit über einem Jahr ihren Kopf eigenständig halten – erst kurz davor bekam die Familie die Diagnose –, mit fünf Jahren konnte sie laufen und nun mit elf unmissverständlich kommunizieren, wenn sie trinken oder abgeholt werden möchte. „Sie ist nonverbal“, spreche nur wenige Wörter, erklärt ihre Mutter, „man muss sie anschauen, um zu wissen, was sie einem sagen will.“

Schlafstörungen: Varsha und ihre Mutter sind oft nächtelang wach

Der Alltag der Familie Bangajan ist fernab von „normal“. Varsha benötigt rund um die Uhr Hilfe und fordert die gesamte Aufmerksamkeit ihres Umfeldes ein, sie leidet unter Immun- sowie Muskelschwäche, hat Rückenbeschwerden, Schlafstörungen, Angstzustände, permanente Reizüberflutung, autistische Züge und ist außerhalb der Wohnung auf einen Rollstuhl angewiesen – um nur einige Symptome zu nennen.

„Ich kann gar nicht sagen, ob der Tag für mich irgendwann endet“, gesteht Varshas Mutter. „Ihre Schlafstörungen sind manchmal so immens, dass ich wie in einem Tunnel rumlaufe. Durch das viele Wachsein bin ich öfter an meine körperlichen Grenzen gekommen.“ Und trotzdem: Irgendwann konnte sich Bangajan an den Stress gewöhnen, ist offensichtlich stolz auf sich und ihre lebensfrohe Tochter.

Unterstützung bekommt Familie Bangajan von der Lebenshilfe Bochum, die sowohl Gruppentermine als auch Einzelbetreuung für Menschen mit Behinderung anbietet.
Unterstützung bekommt Familie Bangajan von der Lebenshilfe Bochum, die sowohl Gruppentermine als auch Einzelbetreuung für Menschen mit Behinderung anbietet. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Pausen gibt es für Biruntha, ihren Mann und Varshas Bruder nur, wenn sie sich die Unterstützung von außerhalb holen. In einer Krabbelgruppe entstand erstmals der Kontakt zum Familienunterstützenden Dienst (FUD), „das müsste so ungefähr zehn Jahre her sein“, erinnert sich Melanie Majert, stellvertretende Leiterin des FUD der Lebenshilfe Bochum.

Seitdem hilft der FUD Varsha. Sie nimmt an Gruppentreffen teil oder wird von einer „FUD-Kraft“ für einige Stunden betreut. „Wir hatten eine Studentin, die ist sehr lange bei uns gewesen und Varsha hat sie superstark ins Herz geschlossen“, sagt Biruntha Bangajan. Sie gingen gemeinsam zum Spielplatz, in den Tierpark, einkaufen oder spielten in der Wohnung – sie war ein Teil der Familie, was den Abschied umso schlimmer machte. Nun suchen sie nach einer neuen „Einzelbetreuung“.

Die Lebenshilfe Bochum unterstützt Familie Bangajan im Alltag

Wer die Dienste vom FUD in Anspruch nehmen möchte, könne sich entweder telefonisch oder persönlich bei der Lebenshilfe melden, sagt Majert. „Wir machen uns dann ein Bild von der Familie. Wo wird Unterstützung gebraucht? Was wünschen sie sich?“ Im nächste Schritt werde geschaut, ob jemand der Helferinnen und Helfer zu der Familie passt. Majert hebt hervor: „Es ist uns wichtig, dass wir auch die FUD-Kräfte unterstützen, und wir gucken, dass alle Seiten zufrieden sind“ – neue Bewerber seien immer gerne gesehen, eine spezifische Ausbildung braucht es in den meisten Fällen nicht.

Melanie Majert von der Lebenshilfe Bochum kennt Varsha seit über zehn Jahren und hilft der Familie bei der Suche nach einer neuen FUD-Kraft.
Melanie Majert von der Lebenshilfe Bochum kennt Varsha seit über zehn Jahren und hilft der Familie bei der Suche nach einer neuen FUD-Kraft. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

„Personen die einen Pflegegrad haben, haben die Möglichkeit, über die Pflegekasse Entlastung zu bekommen. Sie kriegen ein bestimmtes Budget an Stunden. In der Regel sind das zwei bis drei pro Woche“, erklärt Majert. In jeder Altersklasse ist Unterstützung möglich: von Klein- und Schulkindern, über Jugendliche, bis hin zu jungen Erwachsenen und älteren Personen.

Inklusion im Kindesalter: „Verstehen Varsha auch ohne Worte“

„Wenn Kinder von früh auf Inklusion sehen, merken sie keinen Unterschied“, sagt Bangajan aus Erfahrung, „mit der Zeit verstehen sie Varsha, auch ohne Worte.“ Umso wichtiger sei es, dass Kinder mit und ohne Behinderung zusammen aufwachsen, bestätigt Majert. Biruntha Bangajan fügt hinzu: „Noch immer kann in vielen Lebensbereichen für Inklusion viel mehr Arbeit dafür geleistet werden, dass Kinder mit Behinderungen mehr gesehen und mit ihren Defiziten angenommen werden.“ Wichtig sei ihr, dass sich viel mehr Menschen zur ehrenamtlichen Arbeit motivieren. Ihrem Gefühl nach zu urteilen, habe dies in den letzten Jahren deutlich nachgelassen.

Varsha wird nie ein „normales“ Leben führen, ist immer auf die Hilfe ihres Umfeldes angewiesen. Und dennoch sagt ihre Mutter eindeutig: „Man unterschätzt Varsha immer sehr stark, weil sie nicht aktiv spricht. Sie ist trotzdem ein superglückliches Kind“, könne sich stundenlang für fließendes Wasser begeistern und liebe es, Fotos anzuschauen. „Ich habe auch lange gebraucht, aber es ist nie falsch, Hilfe anzunehmen“, rät Bangajan allen, die Angehörige mit Behinderungen ausschließlich selbst betreuen.

Familienunterstützender Dienst Bochum

Der Familienunterstützende Dienst (FUD) der Lebenshilfe Bochum ist ein ambulanter Dienst für Familien, die ein Kind oder Angehörige mit einer Behinderung haben. „Wir beraten die Familien und vermitteln engagierte Personen, die meist einmal pro Woche in die Familie kommen und diese durch die Betreuung des Menschen mit einer Behinderung unterstützen“, erklärt der FUD.

Wer sich für ein soziales Engagement im oder Betreuung durch den FUD interessiere, könne gerne ein Beratungsgespräch vereinbaren – ehrenamtliche Kräfte werden gesucht. Entweder telefonisch unter 0234/91789031 oder per E-Mail unter fud@lebenshilfe-bochum.de. Die Lebenshilfe Bochum hat ihren Sitz am Westring 11 in Bochum und ist unter der Woche von 8 bis 16 Uhr (freitags bis 15 Uhr) geöffnet.