Gladbeck / Bottrop. Beim Kinder- und Jugendhospizdienst begleiten Ehrenamtler Kinder und Familien. Hier erzählen sie von der erfüllenden und teils schweren Aufgabe.
„Hospiz? Und dann auch noch mit Kindern? – Nein, Danke.“ Ungefähr so denken insgeheim wohl viele, wenn sie das erste Mal vom Kinder- und Jugendhospizdienst Emscher-Lippe hören. Dabei ist der Verein, der vor allem in Gladbeck, Bottrop, Gelsenkirchen und dem Kreis Recklinghausen aktiv ist, auf Ehrenamtliche angewiesen, die sich neben dem Beruf oder im Ruhestand freiwillig um schwer kranke oder behinderte Kinder und deren Familien kümmern.
Aber wer hat schon den Mut und Elan, sich ehrenamtlich ausgerechnet mit dem Thema auseinanderzusetzen, das in unserer Gesellschaft, so gut es irgend geht, verdrängt wird? Zumal es hier auch noch um Heranwachsende mit womöglich tragischen Lebensgeschichten geht. Wir haben mit drei Freiwilligen gesprochen, sie nach ihrer Motivation und ihren Erfahrungen als Lebensbegleiter gefragt.
Lebensbegleiter Ole (56): „Ich will Gas geben.“
Lebensbegleiter. Das klingt verdächtig nach einem Euphemismus, so wie „Gesundheitskarte“ – ist aber keiner. Denn die Arbeit der Freiwilligen spielt sich weder in einer Klinik ab, noch sind die Kinder immer akut vom Tod bedroht, erklärt Koordinatorin Alexandra Rose. Die engen Beziehungen zwischen Lebensbegleiter, Kind und Familie bauen sich oft über Jahre auf.
Ole zum Beispiel verbringt seit 2022 jede Woche Zeit mit Marek (21) und Paul (17, Namen geändert), zwei Brüdern, beide Autisten und im Rollstuhl sitzend. Ole holt sie von Zuhause ab, geht mit ihnen in den Zoo, in den Zirkus Flic Flac oder zum Musical Starlight Express. „Weil ich da selbst Lust drauf habe“, sagt Ole. Und weil die betreuten Familien sich solche Ausflüge nicht immer leisten könnten. Der ehemalige Maschinenbautechniker sagt, er habe bislang ein „ziemlich gutes Leben“ gehabt, finanziell sei er gut abgesichert; jetzt wolle er selbst etwas zurückgeben.
Seine Devise, die so gar nicht nach Selbstaufopferung klingt, lautet, man höre und staune: „Ole first!“ So habe er das auch von Anfang an klar kommuniziert, als er durch ein Zeitungsinserat auf den Verein aufmerksam wurde. Soll heißen: Zuerst kommt der Ehrenamtliche, dann das Kind und dessen Familie. Schließlich soll sich niemand aufreiben und nach kurzer Zeit dann vielleicht wieder hinschmeißen. Regelmäßig, erklärt Koordinatorin Alexandra Rose, treffen sich die Lebensbegleiter deswegen in einer offenen Runde, um Belastendes loswerden zu können, schöne Erfahrungen zu teilen, um Zweifel zu artikulieren oder Schwierigkeiten auszuräumen.
Denn nicht immer stimmt auf Anhieb die Chemie zwischen Lebensbegleiter und Familie. Bei Ole sei es dagegen „Liebe auf den ersten Blick gewesen.“ Er wolle „Gas geben“, Ausflüge unternehmen, Marek und Paul immer wieder etwas Neues zeigen. Zuletzt waren sie in Dortmund, ausgerechnet: unter den Brüdern, die in weiß-blauen Rollstühlen mit riesigen S04-Schriftzügen sitzen, nur „die verbotene Stadt“ genannt, scherzt Ole. Es ging nicht anders: Ein neuer Rollstuhl musste her. Währenddessen haben die Eltern von Paul und Marek Zeit: für die Bewältigung des Restalltags, für Besorgungen oder einfach: für sich. Lebensbegleiter entlasten die ganze Familie. Sie schaffen Auszeiten. Mitunter sind die Alltagshelfer für Eltern und Geschwister eine ebenso große Unterstützung wie für die Kinder und Jugendlichen selbst.
Nicole Brell (51): „Wenn es passt, dann passt es.“
Manchmal sind die auch schon erwachsen wie in Nicole Brells Fall. Sie ist Lebensbegleiterin seit 2019 und holt den mittlerweile 31-jährigen Roman (Name geändert) alle drei Wochen aus einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung ab. „Ich bin über Bekannte dazu gekommen“, sagt die 51-Jährige, die als Berufsschullehrerin und ausgebildete Krankenschwester schon besser ins Klischee einer sozial engagierten Person passt.
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Wie Marek und Paul ist auch der blinde Roman Autist, auch er sitzt im Rollstuhl. Mit Nicole Brell fährt er gern nach Oberhausen in den Kaisergarten, regelmäßig setzten sie von Duisburg-Walsum nach Orsoy über, drehen zusammen eine Runde, gehen Pommes essen auf der anderen Rheinseite. Ein paar Mal waren sie im Sommer auch schon am Möhnesee, wo der Kinder- und Jugendhospizdienst alljährlich eine Freizeit organisiert. „Hauptsache, er ist nicht im Heim“, sagt Brell, die sich an den Wochenenden mit Romans Eltern abwechselt.
Die Berufsschullehrerin hatte vorher kaum Erfahrung im Umgang mit behinderten Menschen. Ist man da nicht auch etwas gehemmt? „Man muss den Menschen erst kennenlernen“, sagt sie. „Wenn es passt, dann passt es“, Behinderung hin oder her.
Ute Weißflog (70): „Der Tod wird heute ausgeklammert, es wird weggeschaut.“
„Man macht sich vorher schon Gedanken“, räumt Ute Weißflog ein, die von den drei Lebensbegleitern am längsten dabei ist. Seit sechs Jahren verbringt sie allwöchentlich Zeit mit dem kleinen Nils (Name geändert), der an der Chromosomenstörung Trisomie 18 leidet. Die Lebenserwartung von Kindern mit diesem Syndrom liegt statistisch bei unter einem Jahr. Nils ist jetzt acht Jahre alt.
Er kann nicht sprechen und ist körperlich stark beeinträchtigt. An große Ausflüge ist mit Nils eher nicht zu denken. Stattdessen liest Weißflog dem Jungen geduldig zu Hause vor, jede Woche. „Ich wollte schon früher was mit Kindern machen“, sagt die 70-Jährige. Mit dem Eintritt in die Rente war der Zeitpunkt dann gekommen.
„Manchmal ignoriert er mich am Anfang vielleicht, weil er heute keine Lust hat“, erzählt Weißflog, „aber später, wenn ich dann das breite Grinsen auf seinem Gesicht sehe, ist der Tag für mich schon gerettet.“ Es gebe in der Familie eine große Dankbarkeit über die Arbeit der Lebensbegleiterin. „Man kriegt so viel zurück“, beschreibt die 70-Jährige ihre positiven Erfahrungen. „Sich die Akkus vollmachen“, nennt es Ole. Beide sind froh, etwas Vernünftiges mit ihrer freien Zeit machen zu können.
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Dass Nils jederzeit versterben könnte, ist der Rentnerin klar. Sie erinnert sich noch an Zeiten, drei Generationen vor ihr, als ihre Urgroßmutter nach dem Tod drei Tage im Haus aufgebahrt wurde. Zum Abschiednehmen. Heute stürben die meisten ja im Krankenhaus, sagt Weißflog. „Der Tod wird heute ausgeklammert, es wird weggeschaut“, bedauert die Lebensbegleiterin.
Alexandra Rose (50): „Wir haben hier eine Menge Spaß. Das denken die Leute nicht.“
Für die Hospizbewegung, die in den 90er Jahren als Verein in Deutschland gestartet ist, gehören Krankheit und Tod dagegen zum Leben dazu, wie die Geburt. Die eigene Sterblichkeit, Trauererfahrungen in der Kindheit, der kulturell sehr verschiedene Umgang mit dem Lebensende: Alles Themen, die im Einführungsseminar mit jedem neuen Ehrenamtler intensiv durchgesprochen werden. „Da habe ich erst mal mich selbst richtig kennengelernt“, erinnert sich Ole. Vorher habe er Menschen gern in Schubladen gesteckt, das passiere ihm jetzt nicht mehr.
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Für viele Lebensbegleiter ist der Verein „wie eine kleine Familie“, sagt Brell. Der eine ist für den anderen da. „Wenn ich irgendwas habe, kann ich immer sofort jemanden anrufen.“ „Wir haben hier immer eine Menge Spaß“, sagt Koordinatorin Alexandra Rose, „Das denken die Leute nicht.“
Wer sich selbst überzeugen will und vielleicht ein-, zweimal die Woche oder auch nur einmal im Monat ein paar Stunden Zeit übrig hat, kann am Samstag, 10. Februar zum bundesweite „Tag der Kinderhospizarbeit“ im Büro des Kinder- und Jugendhospizdienstes Emscher-Lippe vorbeikommen. Der „Tag der offenen Tür“ findet von 10 bis 14 Uhr am Kirchplatz 5 statt. Telefonisch ist das Büro zu erreichen unter der 02043 987 2740. Mehr Informationen gibt es auf der sehr gut kuratierten Homepage der Glattbecker Lebensbegleiter: www.deutscher-kinderhospizverein.de.