Essen. Der neue schulscharfe NRW-Sozialindex verspricht Brennpunktschulen Hilfe. Doch viele Lehrer sind verunsichert. Was sich für die Schulen ändert.
Die Neuauswertungen des „schulscharfen Sozialindex“ verunsichert viele Lehrkräfte und Schulleitungen in NRW. Auf der Bewertungs-Skala haben sich die Brennpunkt-Risiken für Schulen teils stark verändert. So stufte das NRW-Schulministerium 2948 Schulen in einen höheren Sozialindex ein. 99 Schulen sind mit der Aktualisierung heruntergestuft worden. Ein Blick in die Schulklassen der Stadt Essen.
Ein Lehrer einer weiterführenden Schule in Essen kritisiert die Herabstufung vieler Schulen. Er hat den Eindruck, dass aus vielen ehemaligen „Brennpunktschulen“ ganz plötzlich „Vorzeigeschulen“ geworden sind. Dabei habe sich an der Realität nichts geändert. „Dass vielen Schulen dadurch Fördermittel fehlen, ist ein Skandal“, findet er.
Um den Sozialindex für eine Schule zu bestimmen, wird etwa der Schüleranteil mit nicht-deutscher Familiensprache, Migrationshintergrund und diagnostiziertem Förderbedarf bewertet. Hinzu kommt die Dichte der Kinder und Jugendlichen im Schulviertel, in dem Familien Sozialhilfe empfangen. Stufe 9 bedeutet die höchste Belastung, Stufe 1 die niedrigste. Je höher der Sozialindex, desto besser sollen die Schulen ausgestattet werden, etwa mit Schulsozialarbeitern, zusätzlichen Lehrerstellen, Lernräumen oder Technik.
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Essener Lehrerin: „Brauchen mehr Räume für Deutschkurse“
Eine andere weiterführende Schule in Essen ist in diesem Jahr „wieder nur im Mittelfeld“ gelandet, erzählt eine Lehrerin. Ihren Namen möchte die Frau nicht öffentlich lesen. Zwar sei der Index von Platz 4 auf Platz 5 geklettert - „das wird unserer Situation aber immer noch nicht gerecht.“ Denn der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sei nicht weniger geworden. Im Gegenteil: Etwa durch den Ukraine-Krieg nimmt die Schule immer mehr geflüchtete Kinder auf, die teils ganz ohne Deutschkenntnisse kommen. „Das muss auf der Skala auch entsprechend abgebildet werden“, sagt die Lehrerin. Schulen wie ihre brauchten dringend mehr Unterstützung, etwa durch Schulsozialarbeiter oder mehr Räume, in denen Schülerinnen und Schüler Deutschkurse belegen können.
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Zudem gebe es Schulen, so die Lehrerin, die gar keinen Schulsozialindex haben, weil sie gerade erst neu gegründet wurden. „Viele Lehrkräfte blicken da nicht richtig durch und wissen nicht, nach welchen Kriterien sich der Index nun wieder verändert hat.“ Der Sozialindex wurde erstmals 2020 von Experten der Ruhr-Universität Bochum entwickelt und im Herbst 2023 reformiert.
Plötzlich Brennpunktschule: „Wir müssen der Realität ins Auge sehen“
Bei vielen Schulen in NRW ist es genau andersherum. Sie haben nach neusten Berechnungen nun ein höheres Brennpunkt-Risiko. Einige fürchten deshalb um fallender Anmeldezahlen, wenn die Schule jetzt als sogenannte „Brennpunktschule“ eingestuft wird. Doch nicht die Essener Gesamtschule Bockmühle. „Wir müssen der Realität ins Auge sehen“, sagt Schulleiterin Julia Gajewski. Die Schule liegt in einem herausfordernden Stadtteil, die Schülerinnen und Schüler kommen aus über 40 Nationen. „Der angepasste Sozialindex von 9 ist viel näher an der Wirklichkeit“, so Gajewski. Gefühlt liege er sogar eher bei 12. Zuvor stufte das Land die Schule auf der Skala bei 6 ein, „da haben wir uns nicht abgebildet gefühlt“.
Lange Zeit waren nur wenige Schulen in NRW im Sozialindex 9. Doch viele Stadtteile ändern sich, Bedingungen werden oft nicht besser. An ihrem Schulviertel merkt Leiterin Gajewski, dass in den letzten fünf Jahren deutlich mehr junge Menschen in prekären Verhältnissen groß werden, mehr Jugendliche Unterstützung brauchen. Bei vielen Geflüchteten, die in Essen in ihren Communities leben, bestehe die Gefahr, dass sich Parallelgesellschaften bilden.
Essener Schulleitung: „Selbst wenn ich neue Lehrerstellen bekomme, ist es schwer, sie zu besetzen“
Durch den Sprung auf 9 müsse sie nun weniger diskutieren, um Unterstützung zu erhalten, so Gajewski. „Die Politik ist für die Situation, in der wir arbeiten, sensibilisiert.“ Die Schule lädt aktiv Menschen aus der Politik ein, um sich die Bedingungen vor Ort anzuschauen. Dann bekommen sie etwa mit, was in einer Klasse mit sechs Förderkindern getan werden muss und welch ein Spagat es ist, gleichzeitig leistungsstarke Schüler zu fördern.
Auf praktischer Ebene ändere sich mit der Hochstufung allerdings wenig, so Gajewski. „Selbst wenn ich Lehrerstellen dazu bekomme, ist es schwer, sie zu besetzen.“ In der Schule fehlen etwa neun Prozent Lehrer, eine ganze Menge. „Um unseren Schülern wirklich gleiche Chancen wie den Kindern im Essener Süden zu bieten, brauchen wir deutlich kleinere Klassengruppen. Dann brauche ich zum Beispiel nicht drei, sondern 30 neue Stellen.“
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