Ruhrgebiet. Weihnachten und Neujahr waren viele Apotheken in NRW überlaufen – doch das ist „normal“, sagen Apotheker. Das Problem liege woanders.
Thomas Preis wollte eigentlich nur mal kurz durchklingeln bei seinen beiden Mitarbeitern („sehr erfahrene Leute“), die am Heiligen Abend in seiner Kölner Apotheke Dienst schoben. Nur mal hören, wie’s läuft, sich bedanken für den Einsatz - niemand schließlich arbeitet gern, wenn die anderen feiern. Doch er kam gar nicht durch, die Leitung war ständig besetzt. „Da wusste ich: Land unter“, erzählt der Apotheker Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein.
Auch der Lünener Apotheker Dagobert Ulrich schilderte den Ruhrnachrichten, dass er einen Dienst wie den vom 24. auf den 25. Dezember „noch nie erlebt“ habe: 286 Kunden zählte er in dieser Nacht, „da beißt man nicht in sein Butterbrot, da trinkt man keinen Kaffee, da geht man nicht einmal auf Toilette“.
200 bis 300 Kunden in einer Nacht – „eine realistische Größe“
Einzelfälle oder Trend? Sind die Notdienste der Apotheken zunehmend überlaufen? „Sonntags sind die Apotheken immer voll, da kommen im Schnitt 70 bis 80 Kunden. An Sonntagen im Winter sind es mehr, da sind die Apotheken immer richtig voll“, erklärt eine Dortmunder Apothekerin lakonisch. Normale Notdienste ließen sich „gut abarbeiten“, vor allem an Feiertagen oder während der Dienste zwischen Feiertagen käme man aber gelegentlich an seine Grenzen.
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Die starke Frequentierung der Notdienste am Jahreswechsel sind also für Apotheker nicht untypisch? „Das liegt einfach an der Jahreszeit“, sagt Stefanie Elbers vom Apothekerverband Westfalen-Lippe. 200 bis 300 Kunden in einer Nacht „zwischen den Jahren“ seien „eine realistische Größe“, das weiß sie aus eigenen Diensten, die sie 20 Jahre lang geschoben hat.
Die hohen Kundenzahlen spiegelten die hohe Infektionslage wider, denkt auch ihr Kollege aus dem Bereich Nordrhein, Thomas Preis. Neu sei, so Preis, dass man schwerer zu kämpfen habe, verordnete Medikamente zu besorgen. Am Heiligen Abend etwa habe es in Köln Probleme mit Azithromycin gegeben, einem Antibiotikum für Erwachsene. „Da sind Rücksprachen nötig, viele Telefonate, mehr Aufwand eben.“ Dienste wie diesen besetze er -- wie andere Apotheker auch -- deshalb vorsorglich stets mit doppelter Besetzung.
Notdienstpauschale: 415,69 Euro
Bezahlt werden die Apotheker indes nicht nach der Mitarbeiterzahl im Geschäft. Um die 400 Euro erhalten sie aus dem „Nacht- und Notdienstfonds“ ihres Verbands für einen „Volldienst“ (24 Stunden, von neun Uhr bis neun Uhr). Die genaue Summe wird für jedes Quartal neu festgesetzt, für das dritte Quartal 2023 betrug die Notdienstpauschale 415,69 Euro. Pro Kunde (nicht pro Medikament!) wird zudem eine Extragebühr von 2,50 Euro fällig.
Mit Rezepten kommen die Kunden in den Notdienst – oder mit Beschwerden, die sie erst einmal selbst kurieren wollen (vielleicht auch, weil dieWarteschlangen in den Praxen derzeit so lang sind). Nach Erkältungsmitteln würde oft gefragt, so Elbers, aber auch nach Medizin für den Magen, den man sich gerade an Feiertagen gern allzu sehr vollstopfe. Doch um drei Uhr nachts werden auch Kondome und Hustenbonbons verlangt, berichtet Jens Krömer, Sprecher der Apothekenkammer Nordrhein. Kein Scherz!
Late-Night-Shopping in der Apotheke
Krömer spricht in solchen Fällen von „Missbrauch“ des Notdienstes, von einem „Late-Night-Shopping“, das besser in der Tankstelle nebenan erledigt werden könne. Er erzählt auch von sexuellen Belästigungen von Apothekerinnen, von anzüglichen Anrufen oder eindeutigen Angeboten. Und von Kunden, die sich beschwerten, weil das „Grippostad“ um vier Uhr früh in der Apotheke teurer sei als im Internet; oder weil der Apotheker mehr als eine Minute brauchte, um nach dem Klingeln die Klappe zu öffnen. „Doch im Notdienst darf der Apotheker auch schlafen, das ist ein Dienst, der zusätzlich zum normalen Tagdienst geleistet wird, Stunden, die er noch nach der normalen Schicht arbeitet.“ Mit einer Plakataktion will die Apothekerkammer jetzt für mehr Verständnis für Apotheker und Apothekerinnen werben – und klar machen, was deren eigentliche Aufgabe im Notdienst sei: „die Akutversorgung“.
Dass es an Weihnachten oder Silvester besonders rund gehe, hält auch Krömer für nicht außergewöhnlich, „dieses Chaos ist normal“, sagt er. Jeder erfahrene Apotheker wisse doch auch, dass er für die Neujahrsnacht besser ein paar Tuben Salbe gegen Verbrennungen extra auf Lager habe – „für die Böller-Unfälle, die nach der Notaufnahme in der Klinik bei uns landen“.
Weniger Apotheken, mehr Notdienste
Doch Krömer sagt, die grundsätzliche Belastung der Apotheker und Apothekerinnen durch Notdienste „übers ganze Jahr gesehen“, habe zugenommen. Allein im Bereich seiner Kammer, die die Regierungsbezirke Köln und Düsseldorf umfasst, seien in den letzten 25 Jahren 500 Apotheken verloren gegangen. „Die, die übrig geblieben sind, das sind gerade noch 2000, müssen nun mehr Dienste stemmen. Und dieser Trend setzt sich leider fort. Und natürlich geht das an die Nieren.“ Schließlich müssten Apotheken an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr erreichbar sein. Bundesweit sind dazu laut Nacht- und Notdienstfonds jährlich auch rund 400.000 Volldienste erforderlich.
Sorgen bereite den Apotheken in diesem Zusammenhang darüber hinaus der „extreme Personalmangel“.„Viele Inhaber“, so Krömer, „müssen alle Dienste inzwischen selbst machen…“. Thomas Preis, der Apotheker aus Köln, musste nicht. Aber am Heiligen Abend stand er dann doch neben seinen beiden Mitarbeitern in seiner Apotheke – um sie zu unterstützen, wieder Land zu gewinnen.