Witten. Wittener Eltern wurden verurteilt, weil sie Nacktfotos ihres Sohnes machten. Darf man sein Kind nicht mehr fotografieren, wenn es nackt ist?
Die Mutter filmte ihren Sohn (3) dabei, wie er nackt auf einem Küchenstuhl tanzt. Der Vater fotografierte, wie er unbekleidet auf einem Handtuch liegt. Mit diesen Aufnahmen haben sich die beiden Eltern, die in Witten leben, strafbar gemacht – und wurden nun vor Gericht verurteilt. Der Grund: Laut Staatsanwaltschaft haben sie sich der Herstellung und des Besitzes kinderpornografischen Materials schuldig gemacht. Dahinter steckt eine Gesetzesverschärfung, die bereits seit Juli 2021 gilt – und so umstritten ist, dass sie nun wieder korrigiert werden soll. Alle wichtigen Fragen und Antworten im Überblick.
Was wird den Eltern aus Witten vorgeworfen?
Ein kurzer Rückblick: Am 7. Oktober 2021 badete die Mutter ihren Sohn. Zum Abtrocknen stellte sie ihn auf einen Küchenstuhl. Im Hintergrund spielte rhythmische tamilische Musik aus ihrer Heimat Sri Lanka. Der kleine Junge wippte fröhlich zur Musik mit. Um diesen Moment festzuhalten, filmte die Mutter ihren Sohn. Während der Aufnahme „greift sich der Junge mehrfach an sein Glied“, heißt es in der Anklage. Auf dem nur 14 Sekunden langen Video sei auch zu sehen, wie der Vater „mit dem ausgestreckten Zeigefinger im Takt der Musik viermal leicht den Hodensack des Kindes berührt“. Ein anderes Foto zeigt den Jungen als neugeborenen Säugling, wie er auf einem Handtuch liegt. Der Vater „hebt den Penis des Kindes an und hält ihn in die Kamera“, heißt es dazu in der Anklageschrift.
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„Wir wollten unserem Kind doch nichts Böses“, beteuern beide Elternteile. In der tamilischen Kultur sei es völlig normal, ein Kind nackt zu fotografieren und dabei auch demonstrativ zu zeigen, dass es ein Junge ist. Was die Eltern als völlig harmlos empfanden, gilt in Deutschland seit der Gesetzesverschärfung im Jahr 2021 jedoch als kinderpornografische Straftat. Die Mutter erhielt daher eine Bewährungsstrafe von einem Jahr sowie 50 Stunden soziale Arbeit als Auflage. Der Vater wurde zu einer Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, und muss 100 Stunden gemeinnützige Arbeit ableisten.
Um welches Gesetz geht es in dem Wittener Fall?
Lügde, Münster und Bergisch Gladbach: Nach den aufsehenerregenden Missbrauchsfällen wurde im Sommer 2020 der Ruf nach höheren Strafen laut. Daher verschärfte die damalige Bundesregierung das Gesetz gegen sexualisierte Gewalt an Kindern. Neben dem Paragrafen 176 im Strafgesetzbuch, der sexuelle Handlungen an Kindern mit Körperkontakt unter Strafe stellt, wurde auch der Paragraf 184b verschärft. Dieser ahndet die Verbreitung, den Erwerb und den Besitz sogenannter kinderpornografischer Inhalte. Beide Tatbestände sind seit der Verschärfung keine Vergehen mehr, sondern Verbrechen, erklärt die Essener Rechtsanwältin Jenny Lederer. Mindeststrafe: ein Jahr Freiheitsstrafe.
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Warum ist das Gesetz so umstritten?
Das hat mehrere Gründe. Weil die Mindeststrafe auf ein Jahr Freiheitsstrafe angehoben wurde, ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, in wirklich jedem Fall zu ermitteln. „Jedes Verfahren landet mindestens beim Schöffengericht. Bei jedem Verfahren muss ein Pflichtverteidiger oder eine Pflichtverteidigerin bestellt werden. Jedes Verfahren findet in öffentlicher Hauptversammlung statt. All das ist mit einem extrem großen Aufwand verbunden“, kritisiert Rechtsanwältin Lederer. Das führt zum einen zur Überlastung der Behörden, betont Dirk Peglow, Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter.
Zum anderen werden Personen angeklagt, die überhaupt keinen pädokriminellen Hintergrund haben – und teilweise sogar bei der Aufklärung von Straftaten helfen wollen. Beispiele sind laut Bundesjustizministerium etwa:
- Eine Mutter entdeckt Kinderpornografie im Klassenchat ihres Sohnes. Sie speichert sich das Foto selbst ab und schickte es an den Lehrer der Klasse, um auf das Problem aufmerksam zu machen.
- In eine WhatsApp-Gruppe mit vielen Teilnehmenden schickt ein Mitglied kinderpornografisches Material, obwohl die anderen in der Gruppe das ablehnen. Eine junge Frau, die ebenfalls in der Gruppe ist, vergisst das Material von ihrem Handy zu löschen, obwohl sie es selbst schrecklich findet.
- Eine Frau entdeckt, dass das Profilbild eines Bekannten zu Kinderpornografie verändert wurde. Sie schickt ihm einen Screenshot, um ihn zu warnen, dass sein Account gehackt wurde.
„Die Verschärfung hat alles zum Verbrechen gemacht“, hält Peglow fest. Er problematisiert vor allem, dass seit der Verschärfung nicht Menschen mit tatsächlichen pädophilen Neigungen in den Fokus der Ermittlungen rücken. So waren in der Polizeilichen Kriminalstatistik 2021 ungefähr 41 Prozent der erfassten Tatverdächtigen bei Kinderpornografie selbst Kinder (16 %) oder Jugendliche (25 %) – die größtenteils aber nicht pädophil waren. Den Schülerinnen und Schülern, die kinderpornografisches Material untereinander verschicken, würde es in der Regel vielmehr darum gehen, sich mit schockierenden Videos zu übertrumpfen, so Peglow.
Dürfen Eltern ihre Kinder nicht mehr fotografieren, wenn sie nackt sind?
Der Fall aus Witten hat viele Eltern verunsichert. Können sie nun nicht mehr festhalten, wie ihr Baby von der Hebamme zum ersten Mal gebadet wird? Dürfen sie die Kinder nicht mehr beim Nacktbaden im See filmen? Darüber müssten sich Eltern keine Sorgen machen, sagt Dirk Peglow. Es werde klar zwischen Fotos, die einfach eine schöne Erinnerung festhalten, und solchen, die sexuell orientiert sind, unterschieden. Letztere bezeichnet man als „Posing Bilder“, erklärt der Experte: „Wenn sie ihr Baby beim Baden fotografieren, ist das noch lange nicht Kinderpornografie. Sie müssten dabei schon eine aufreizende Pose einnehmen, die ein sexuelles Motiv erkennen lässt.“
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Im Wittener Fall hätten die Filter Alarm geschlagen, da der Vater auf den Videos erkennbar den Genitalbereich des Kindes berührt. „Das ist eher unüblich und die Menschen oder die KI, die die Videos sichten und beurteilen, kennen ja nicht die kulturellen Hintergründe. Auch bei Detailaufnahmen der Genitalien sind wir eher im strafbaren Bereich, weil es unwahrscheinlich ist, dass Eltern Großaufnahmen der Genitalien machen“, sagt Peglow.
Im Wittener Fall vermutete ein automatischer Filter kinderpornografisches Material und meldete dies dem BKA. Ist das erlaubt?
Dass Behörden im Kampf gegen Kindesmissbrauch weltweit zusammenarbeiten, sei unausweichlich, so Peglow. Im Fall aus Witten hatte die gemeinnützige US-Organisation NCMEC, das „Nationale Centrum für vermisste und ausgebeutete Kinder“, dem Bundeskriminalamt die IP-Nummer eines deutschen Handys übermittelt. Auf dem Mobiltelefon würde sich eine kinderpornografische Datei befinden. Dies sei aufgefallen, als das Video in die Cloud hochgeladen werden sollte. Ein spezieller Filter, der Nacktaufnahmen von Kindern erkennt, habe angeschlagen und den Account gesperrt. Bei der Cloud handelt es sich um einen privaten Speicherort, das Video und das Bild wurden nie wirklich veröffentlicht.
Trotzdem sei es Behörden unter Umständen erlaubt, die Fotos hinsichtlich straftätlicher Fotos zu durchsuchen. Gleiches gilt für Soziale Medien und Messenger. „NCMEC meldet uns generell sehr viele Sachverhalten, die meistens auch Menschen mit tatsächlichen pädophilen Neigungen treffen. Die Zusammenarbeit ist also sehr wichtig“, sagt Peglow.
Das aktuelle Gesetz soll überarbeitet werden. Was soll sich ändern?
Die Verschärfung des Gesetzes wurde bereits bei der Einführung erheblich kritisiert. „Wir haben all die Probleme, die wir jetzt sehen, schon damals prophezeit. Alle Beteiligten sind unglücklich mit der aktuellen Situation“, sagt Rechtsanwältin Jenny Lederer. Sie ist im Deutschen Anwaltsverein und war damals als Sachverständige bei der Anhörung des Gesetzes im Bundestag.
Dass der Besitz und das Verbreiten von kinderpornografischem Material seit zwei Jahren ein Verbrechensbestand ist, hält Dirk Peglow generell für „absolut erforderlich“: „Nur so ist die Justiz in der Lage, auch mal längere Freiheitsstrafen zu verhängen. Und die Verschärfung rührte ja auch daher, dass wir eine massive Steigerung der Fälle von Missbrauchsdarstellungen haben.“ Er fordert jedoch, dass die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit haben muss, Verfahren leichter einstellen zu können, wenn klar ist, dass der Angeklagte kein pädokriminelles Motiv hat. Dafür müsse das Justizministerium den sogenannten „minderschweren Fall“ einführen. Dieser könnte es ermöglichen, dass zum Beispiel nicht gegen Lehrkräfte oder Eltern ermittelt werden müsste.
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Justizminister Marco Buschmann kritisiert ebenfalls das Gesetz der Vorgängerregierung. „Eine tat- und schuldangemessene Sanktionierung ist nicht mehr in jedem Einzelfall gewährleistet“, heißt es dazu aus seinem Ministerium. Ein neuer Gesetzesentwurf ist laut einer Sprecherin bereits fertig und solle „zeitnah“ der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Das versprach das Ministerium allerdings schon vor Monaten.
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