Düsseldorf. U-Ausschuss Lügde: SPD im Landtag kritisiert Versagen von Jugendämtern, Polizei und Politik im Kampf gegen den Kindesmissbrauch.
Fünf Jahre nach dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle auf einem Campingplatz in Lügde sieht die SPD im Landtag weiter erhebliche Versäumnisse beim Kinderschutz in NRW. Die Antworten der Landesregierung auf eine Große Anfrage zum Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) „Kindesmissbrauch“ sowie die bisherigen Erkenntnisse aus diesem U-Ausschuss zeigen nach Einschätzung des SPD-Obmanns im PUA, Andreas Bialas, wie weit Anspruch und Wirklichkeit beim Kinderschutz auseinanderklafften.
Nutzten die Ermittler das "große Besteck" nicht?
Bialas wirft zum Beispiel der Polizei, die auf dem Campingplatz „Eichwald“ in Lügde ermittelte, eine zum Teil schlampige Ermittlungsarbeit vor. Die Beamtinnen und Beamten in der so genannten „Besonderen Aufbauorganisation (BOA) Eichwald“ hätten „leider an ganz vielen Stellen versagt“, behauptet Bialas. Die Polizei habe zwar der Strafverfolgung gegen die Haupttäter Andreas V., Mario S. und Heiko V. gut zugearbeitet, Verdachtsmomenten gegenüber anderen potenziellen Tätern sei sie aber nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit nachgegangen. Da habe das „große Besteck“ gefehlt.
Welche Rolle spielte der "Sexclan" auf dem Campingplatz?
So habe es auf dem Campingplatz „Eichwald“ in der Nachbarschaft von Mario S. einen „Familien-Sexclan“ mit einem Großvater als Oberhaupt gegeben. Im engen familiären Umfeld dieses Mannes seien 16 minder- und auch volljährige Opfer von den Haupttätern missbraucht worden. „Da ist kein Kind davongekommen“, so Bialas. Die nahe liegende Frage, ob dieser Clan Beihilfe zum Missbrauch geleistet oder gar selbst Kinder vergewaltigt habe, sei bisher unbeantwortet geblieben.
Ein weiteres Kind, befreundet mit dem Pflegekind des Haupttäters Andreas V, soll trotz eines den Behörden bekannten Verdachtes auf Kindesmissbrauch noch weit über ein Jahr lang von seinem Vater und einem Freund des Vaters vergewaltigt worden sen. Die „BAO Eichwald“ sei auch in diesem und in vielen weiteren Fällen womöglich sehr lange untätig gewesen und habe das Leiden der Opfer dadurch verlängert. Der U-Ausschuss des Landtages werde in den kommenden Sitzungen versuchen, die vielen noch offenen Fragen zu klären.
Viele Jugendämter ignorierten eine Anfrage des Landes
Die Große Anfrage der SPD zum Kindesmissbrauch, die die Landesregierung inzwischen beantwortet hat, lege darüber hinaus landesweite Versäumnisse beim Kinderschutz offen, erklärte Bialas. So hätten von den 186 Jugendämtern in NRW nur 88, also nur knapp jedes zweite Amt, Fragen der Landesregierung zum Kinderschutz beantwortet. Das Land habe also gegenüber diesen eigenständigen kommunalen Ämtern keinen echten Durchgriff, und die „schärfste Waffe“ des Landes gegenüber den Jugendämtern seien Empfehlungen. „Wir brauchen für die Jugendämter eine übergreifende Fachaufsicht“, meint Andreas Bialas.
Zudem wirke das vor einem Jahr verabschiedete NRW-Kinderschutzgesetz bisher nur unzureichend. Das Landeskinderschutzgesetz soll unter anderem die Beschäftigung der Jugendämter mit Kindeswohlgefährdungen klarer regeln und in jedem Jugendamtsbezirk „Netzwerke“ für den Kinderschutz etablieren. Zu diesen Netzwerken sollen zum Beispiel Gesundheitsbehörden, Polizei, Pädagogen, Familiengerichte und Staatsanwaltschaften gehören. Laut der Großen Anfrage äußerten sich 98 von 186 Jugendämtern gegenüber dem Land nicht zur Frage, ob es dort solche Netzwerke gebe. 44 Jugendämter hätten keine Netzwerke, 43 hätten sie, 40 Ämter beabsichtigten die Einführung in diesem oder im kommenden Jahr.
Der Fall Lügde erschütterte das Land NRW
Auf einem Campingplatz bei Lügde waren über Jahre bis Ende 2018 zahlreiche Kinder von mehreren Männern sexuell missbraucht und vergewaltigt worden. Zwei Haupttäter, Andreas V. und Mario S., waren 2019 zu hohen Haftstrafen verurteilt worden, ein dritter Täter, Heiko V., zu einer Bewährungsstrafe. Der NRW-Landtag hatte 2019 einen Untersuchungsausschuss eingesetzt und in dieser Wahlperiode neu aufgelegt, um die Rolle der Jugendämter in der Region und die Arbeit der Polizei zu beleuchten.
Zu den besorgniserregenden Ergebnissen der Ausschussarbeit gehört, dass viele von denen, die sich professionell mit dem Schutz von Kindern beschäftigen, nie persönlich Kontakt zu den betroffenen Kindern hatten. Immer wieder wurde Personal in Jugendämtern oder in Polizeiwachen mit Aussagen zu möglichem Kindesmissbrauch konfrontiert. Oft regierten die Behörden nicht oder nur halbherzig, manchmal wurden Informanten sogar ermahnt, den Mund zu halten.
Der Vorsitzende des ersten U-Ausschusses, Martin Börschel (SPD), bilanzierte, dass hinter den Versäumnissen in der Regel keine böse Absicht gestanden habe: Jugendamts-Mitarbeiter machten ihren Beruf aus Leidenschaft, würden aber zermürbt durch Personalmangel, unklare Regeln, schlechte Bezahlung und fehlende Wertschätzung.