Essen. Vor 75 Jahren stellte Edwin Land die erste Polaroid-Kamera vor. Heute beglücken die Sofortbilder Nostalgiker und Instagram-Kids gleichermaßen.

Es ist dieses überraschende „Ritsch-Surr“, das sich ins Gedächtnis brennt: Der Moment, wenn man den Auslöser gedrückt hat und wie durch ein Wunder spuckt die Kamera aus ihrem Schlitz an der Vorderseite ein anfangs noch weißes Polaroid-Bild aus. Als der Amerikaner Edwin Land vor 75 Jahren die erste Polaroid-Kamera vorstellte, war das eine echte Sensation: Ein Foto, das sich in Sekunden vor den Augen des Betrachters von selbst entwickelt! Keine Filme mehr, die man erst vollschießen musste, kein Abgeben zum Entwickeln, kein Warten aufs Ergebnis, ein wahres Wunder also, das man erst in Zeiten der Smartphone-Bilderflut wieder zu würdigen weiß, heute allerdings eher, weil man plötzlich wieder etwas Handfestes in den Fingern halten kann.

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Eigentlich schien das Ende der Sofortbilder schon mehrmals besiegelt: Moderne Kameras hatten den Hersteller schon vor dem Boom von Digital- und Smartphone-Fotografie im Jahr 2001 in die Pleite getrieben. Doch es fanden sich einige Enthusiasten wie das Impossible Project, die 2010 die Technik retteten und seit 2017 die Marke Polaroid weiterführen, genauso wie genügend Fotografinnen und Fotografen, die das Genre auch künstlerisch wiederbelebten und ihm mit abenteuerlichen Experimenten neuen Atem einhauchten.

Traumhaft-verwaschene Kunstwerke

Die Landmarke „Tiger & Turtle“ hat man wohl noch nicht in solch einer Optik gesehen.
Die Landmarke „Tiger & Turtle“ hat man wohl noch nicht in solch einer Optik gesehen. © Julia Beyer

Fotografinnen wie Julia Beyer aus Essen. Wenn sie die Polaroid-Kamera in die Hand nimmt, entstehen traumhaft-verwaschene kleine Kunstwerke, deren Ästhetik jedem Lana-Del-Rey-Video gut zu Gesicht stünde. Jedes Bild folgt dabei einem klaren Konzept und einer Bildidee, aber es spielen auch einige andere Faktoren mit hinein. „Licht und Temperatur haben ja einen Einfluss auf das Bild, damit kann man arbeiten. Oder ob man mit neuen oder schon abgelaufenen Filmen fotografiert. Manche Bilder sind gut so, wie sie aus der Kamera kommen. Manche schneide ich auch auf. Man kann sie auch in Wasser einlegen“, sagt die 45-Jährige.

Quer durch Europa, gerade in Frankreich und Italien, aber auch in den USA ist so eine relativ große Szene von Polaroid-Liebhabern gewachsen. „Da sind 18-Jährige dabei, die das erst jetzt für sich entdecken und die das cool finden, weil sie das gar nicht kannten. Es gibt aber auch 60-Jährige, die es von früher kennen und die Kamera wieder vom Dachboden holen“, sagt Beyer.

Entschleunigung spielt auch eine Rolle

Früher war das Sensationelle eben die Schnelligkeit, mit der man Bilder in der Hand hielt. Was natürlich in Zeiten, in denen jeder Bilder auf dem Display sehen kann, geradezu lahm wirkt – weshalb heute die Entschleunigung für viele eine Rolle beim Pola-Fotografieren spielt.

Und es entwickelt sich eine eigene Kultur um die Bilder: Es werden Kalender wie das „Photodiarium“ produziert, die für jeden Tag des Jahres ein frisches Polaroid-Foto liefern – wofür Julia Beyer schon mehrfach das Titelbild lieferte. Es gibt kleine Ausstellungen wie die „Instant Art Cologne“. Beyer selbst verkauft Prints in ihrem Online-Shop, teils auch über Galerien. Musiker mögen die Polaroid-Ästhetik nach wie vor, Beyer hat mehrfach selbst die Cover-Art für Alben geschossen.

Die Musik war es auch, die sie selbst zum Sofortbild gebracht hat. Als eine Super-8-Filmemacherin für Beyers damalige Dreampop-Band Chandeen ein Musikvideo produzierte, entdeckte die Sängerin auch die Polaroid-Fotos der Filmerin. „Ich habe mich dann näher mit ihrer Kunst beschäftigt und war sofort Feuer und Flamme.“

Fans der Polaroids: Warhol und Wenders

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Also kaufte sie eine Kamera – und legte sie wegen der damals sehr experimentellen Filmtechnik der nachproduzierten Filme erstmal wieder in den Schrank. Die Begeisterung kam langsam zurück – und war einschneidend: „Polaroid hat meine Einstellung zur Fotografie geändert. Manchmal werden Bilder eben auch nichts. Man kann sich darüber ärgern, aber man hat ja vielleicht auch eine gewisse Gelassenheit dadurch entwickelt.“

Dass es gerade unter Künstlern viele Polaroid-Liebhaber gibt, ist kein Geheimnis. Jemand wie Andy Warhol wusste die unperfekte Art des Fotografierens sehr zu schätzen, aber auch der international gefeierte Regisseur Wim Wenders („Paris, Texas“, „Der Himmel über Berlin“, „Palermo Shooting“), der in Oberhausen geboren wurde, gehört zu den Verehrern der Ästhetik.

Gute Umsätze mit den Kameras

Dass das Interesse an Sofortbildern gewachsen ist, lässt sich an den Verkaufszahlen der Kameras leicht ablesen: So wurden im Jahr 2013 nur vergleichsweise bescheidene 62.000 Apparate verkauft, im Spitzenjahr 2019 waren es 500.000, bevor es einen leichten Pandemie-Knick gab. Aber zuletzt meldete der Polaroid-Konkurrent Fuji, dass seine neuen Instax-Sofortbildkameras einen ordentlichen Anteil an den Verkäufen hatten. Darunter befindet sich auch ein Sofortbild-Drucker, der Bilder vom Smartphone direkt in Fertigfotos verwandelt.

Apropos Smartphones: Klar ist, dass viele Foto-Apps und auch Instagram mit ihren Filtern die Polaroid-Ästhetik nachgeahmt haben. Aber sie erreichen eben nicht die Authentizität eines analogen Originals. „Wenn man mal schaut, wie viele Bilder man auf seinem Smartphone hat und wie oft man sie sich wirklich anschaut, wird deutlich, dass diese Bilder ein bisschen ihre Wertigkeit verloren haben. Das ist ja bei Polaroid ganz anders.“ Weil die Bilder entsprechend teuer sind, wenn man heute einen abgelaufenen Original-Film im Netz ergattern will, zahlt man manchmal 70 bis 100 Euro dafür, ein neuer kostet 20 Euro. Und natürlich lässt sich nicht genau vorhersagen, ob die Ergebnisse brauchbar sein werden.

Ein Trend kehrt zurück zu Instagram

Zur Beliebtheit der quadratischen Aufnahmen dürfte auch beigetragen haben, dass sich Instagram mit seiner Bildästhetik an die Sofortbilder angelehnt hat. Und heute funktioniert der Transfer manchmal genau umgekehrt: Wer ein analoges Sofortbild produziert und es einem größeren Publikum zeigen will, wird es vermutlich einscannen – und auf Instagram posten, so macht es Julia Beyer natürlich auch. Das richtige Format hat es ja schon. Nur, dass statt eines Foto-Filters zuvor die Film-Chemie ihre Dienste verrichtet hat. Womit sich ein Kreis schließt.

Wer mehr Polaroids sehen will, findet sie unter juliabeyerphotography.com