Ratingen. Nach der Explosion von Ratingen soll ein 57-Jähriger bald vor Gericht. Wie er die Retter am 11. Mai offenbar in die Falle lockte: eine Chronik.
Sie kamen, um zu helfen. Doch dann wurden sie selbst angegriffen: Mehr als vier Monate liegt die verheerende Explosion in Ratingen zurück, nun erhebt die Staatsanwaltschaft Düsseldorf Anklage gegen einen 57-jährigen Mieter eines Hochhauses: Nach einem Hilferuf soll der Mann am 11. Mai die Rettungskräfte mit einem vorbereiteten Brandsatz erwartet haben. Neun Polizisten, Sanitäter, Feuerwehrleute wurden durch eine schwere Explosion zum Teil schwerst verletzt. Was bekannt ist, haben wir hier rekonstruiert.
Es sieht an jenem Donnerstag alles aus wie ein Routine-Einsatz: Bei der Polizei geht um 9.49 Uhr ein Anruf ein, Berliner Straße 45. In dem 70-Parteien-Haus quelle ein Briefkasten über, auch von schlechten Gerüchen ist die Rede. Zwei Polizisten fahren zur Adresse, bei der Feuerwehr lösen sie um 10.37 Uhr Alarm aus. Die Retter rücken aus, standardmäßig: ein Rettungswagen, ein Notarztwagen, ein Löschgruppenfahrzeug – womöglich ist eine Tür aufzubrechen. So ist das immer beim Stichwort „P-Tür“: „Einsatzanlass mutmaßliche hilflose Person“, steht im internen Polizeibericht. Sie fahren solche „Türoffnungseinsätze“, wie Feuerwehrchef René Schubert sagt, in Ratingen mehrfach in der Woche, meist retteten sie dann Menschen im „medizinischen Ausnahmezustand“. „Nichts Schwieriges“, denkt damals Notfallsanitäter André Lampe, als ihn und seine Kollegin der Alarm erreicht. „Die Feuerwehr macht die Tür auf, wir gehen rein und gucken, ob wir noch helfen können.“
Zehnte Etage, hinterste Tür: Länger kann ein Fluchtweg nicht sein
Ein Feuerwehrmann, der sogenannte Maschinist, bleibt unten am Wagen; seine Kollegen, ein Notarzt, Rettungskräfte, Polizist und Polizistin begleiten den Hausmeister ins angebaute Treppenhaus. Sie nehmen die Stufen, zehn Etagen hoch, nach links in den Hausflur, wieder links auf einen Laubengang. Von dieser Art Balkon gehen zwei Wohnungstüren ab, der Notruf betrifft die Wohnung ganz hinten vor Kopf. Länger kann der Fluchtweg aus diesem Gebäude nicht sein.
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Die sanierten Hochhäuser in Ratingen-West, wo die Straßen nach ostdeutschen Städten heißen, Stendaler Straße, Weimarer, Jenaer, stehen wie Bauklötze im Viertel verteilt, kleine Grünflächen dazwischen, Parkhäuser unter Waschbeton, ein Discounter, „verdichtete Wohngegend“ heißt so etwas. Die ansonsten schmucklosen Bauten, in denen Schmidts, Hoffmanns und Müllers, sind saniert, farbig angestrichen, rosa oder himmelblau. Nummer 45 ist gelb, es steht im 90-Grad-Winkel quer zur Berliner Straße; bis zum Eingang haben die Rettungskräfte ein paar Schritte zu gehen.
Plötzlich Geschrei, ein Knall und dann gewaltige Flammen
Oben rücken sie der Tür näher mit einem „Ziehfix“, man kann damit Türen entriegeln, ohne das Schloss zu zerstören. Aber dann schlagen sie die Scheiben ein, vier von sechs kleinen Fensterchen aus mattiertem Glas, die Streben sägen sie durch. Und sehen hinter einem schweren Vorhang schon die Barrikade: 14 Wasserkästen müssen sie wegräumen. Der Geruch von Verwesung steigt ihnen in die Nase, es passt alles zusammen: der Briefkasten, der Geruch, die Barrikade. So erleben die Retter es oft, wenn sie zu spät kommen, wenn jemand sich selbst getötet hat. „Der möchte“, sagt Feuerchef René Schubert, „nicht schnell gefunden werden.“ Sie glauben jetzt, nicht mehr helfen zu können, sie sind vorbereitet auf eine Leiche, vielleicht sogar einen erweiterten Suizid.
Die beiden jungen Polizeibeamten, eine Frau (25) und ein Mann (29), sind schon in der Wohnung, das Altglas haben die Kollegen im Laubengang gestapelt. „Ich wäre als nächster dran gewesen“, erzählt Sanitäter André Lampe, ich stand schon parat.“ Doch dann sieht einer einen Schatten hinten in der Wohnung, „da ist jemand!“ – Lampe erinnert sich nur an „Geschrei, einen Knall und dann schlugen gewaltige Flammen aus dem Loch. Es war schlimm, ganz schlimm“.
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„Wir brauchen Hilfe, das Feuer muss doch gelöscht werden!“
Der Bewohner, so viel wissen die Ermittler schon am selben Tag, schleudert Benzin auf die Einsatzkräfte, entzündet es. Die eigentlich feuerfeste Kleidung nimmt die brennende Flüssigkeit auf, das Benzin tropft auf den Boden, spritzt von einem auf die andere, „das wirkt wie ein Docht“, erklärt René Schubert. Unten vor dem Haus ruft der Maschinist die Feuerwehr über Funk um Hilfe, sein Chef hört es über das Funkgerät, das in seinem Büro auf der Fensterbank steht. Er hört die Anspannung in der Stimme des Kollegen, rennt sofort los, das Einsatzstichwort wird umgestellt: „Explosion“. Es ist 11.18 Uhr.
Von einem „Feuerball“ erzählt die Wehr, von einer Wand aus Flammen – im zehnten Stock gibt es kaum Entrinnen. Die Polizisten, Notfallsanitäter Lampe, sie reißen die Arme hoch, die Hände vors Gesicht, aber sie stehen schon in Brand. Lampe erzählt der WAZ, wie er im Laufen von Flammen verfolgt wird: die Polizistin. Auch er versucht noch, den Notruf zu wählen, aber seine Fingerkuppen sind geschmolzen. Der 31-Jährige hat nur einen Gedanken: „Wir brauchen Hilfe, das Feuer muss doch gelöscht werden.“
Rettungskräfte rennen brennend zehn Stockwerke hinunter
Brennend rennen sie die Treppen hinunter, „in Panik“, wie Lampe erzählt. 100 Stufen und viel noch mehr bis nach draußen. Hier wird Feuerwehrchef Schubert sie alle finden, er ist der Erste am Tatort. Ein Kollege macht professionell Meldung über die Lage, „alle draußen“. Schubert erkennt ihn nur noch an Statur und Stimme. Sie zeigen ihm einen Rettungswagen, dort liege die 25-jährige Polizistin: „Sie stirbt gerade.“ Er sieht einen anderen Mann auf dem Boden liegen, vom Feuer bis auf die Schuhe entkleidet. Es geht jetzt ums blanke Überleben. „Wir verlieren hier Leute“, denkt Brandamtmann Jan-Hendrik Neumann. Sanitäter Lampe will als Profi („Das ist doch meine Kompetenz!“) den anderen helfen, bis er begreift: Diesmal ist er nicht der Helfer, er ist Opfer. Er muss um sein eigenes Leben kämpfen: „Konzentrier dich jetzt darauf, nicht zu sterben.“
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Der Einsatz heißt jetzt „MANV“, Massenanfall an Verletzten, die umliegenden Krankenhäuser, auch weit entfernte Brandstationen verschieben Operationen, holen Personal aus der Freizeit. Binnen einer halben Stunde ist das erste Opfer in der Klinik, sechs Hubschrauber sind unterwegs. Ratingen-West steht voller Rettungswagen, Polizei, Feuerwehr, ein Linienbus hat sich quergestellt, um die Straße abzusperren. An jeder Ecke ziehen Polizisten Splitterschutzwesten an und Gesichtsmasken hoch, auf den obersten Balkonen beziehen Scharfschützen Position. Feuerwehrchef Schubert sagt nüchtern, man habe nach der Erstversorgung der Kollegen mit Hilfe hochqualifizierter Kräfte einen „Routine-Brandeinsatz abgearbeitet“, das Haus geräumt, das Obergeschoss abgeriegelt, Bewohner betreut, die Kinder in Kita und Schule nebenan.
Mutter des Angreifers saß wohl schon Wochen tot im Rollstuhl
Aber es ist ja wieder keine Routine, der Täter ist noch da, dort oben im Feuer. Er setzt in Brand, was nicht ohnehin schon brennt, er überschüttet sich selbst mit Flüssigkeit, dann steht der grauhaarige Mann auf dem Balkon und schreit. Es gibt Bilder davon aus größerer Entfernung, man kann nicht hören, was er ruft, der Leitende Polizeidirektor Dietmar Henning als Einsatzleiter formuliert es so: Der Verdächtige habe „lauthals“ mitgeteilt, „nicht gesprächsbereit“ zu sein. In allem Chaos ist überdies schnell aufgefallen, dass eine Dienstwaffe fehlt.
Es dauert fast vier Stunden, bis die Beamten den Mann überwältigen können. Es knallt ein paarmal, wenig später ist hinter einem Sichtschutz Rettungsfolie zu erkennen. Der Verdächtige wird weggetragen, er ist laut Polizei nur „ausgesprochen leicht verletzt“. Auf der Berliner Straße stehen danach die Feuerwehrleute zusammen, hochrote Köpfe, die Pressluft-Flaschen noch auf dem Rücken. Oder sie sitzen erschöpft auf dem Asphalt, unfähig, noch etwas zu sagen.
Ein Angriff auf die Menschen, die kamen, um zu helfen
Die reden können, die müssen, weil sie Sprecher sind oder Einsatzleiter, kämpfen sichtlich gegen die Sprachlosigkeit. „Scheiße“, sagt einer mit Tränen in den Augen, „geht mir das nah!“ „Skrupellos“ nennt Polizei-Einsatzleiter Henning den Täter, es sei erschütternd, dass er jene angegriffen habe, die kamen, um zu helfen. „Erschüttert“ ist die Polizei und „fassungslos“, „wütend“ Landrat Thomas Hendele, es gebe für diesen Angriff „keine Rechtfertigung“. NRW-Innenminister Herbert Reul, am Nachmittag an die Berliner Straße geeilt, „irre und unbegreiflich“.
Bei Brandbekämpfung und Zugriff sind weitere 26 Menschen verletzt worden, 21 werden wegen des Verdacht auf Rauchgasvergiftung untersucht. Es gibt mindestens fünf lebensgefährlich Verletzte, alle haben großflächige Brandverletzungen, ihre Lungen sind durch Hitze und Gase geschädigt. Einige können noch sprechen, sagen, sie hätten keine Schmerzen. Klar, erkennt Bürgermeister Klaus Pesch, selbst jahrelang bei der Feuerwehr: Die Nervenzellen seien verbrannt. Noch am Abend, als die Feuerwehrleute erschöpft zusammensitzen, rechnen sie damit, dass vier der Kollegen sterben werden.
Verdächtiger redet nicht – nicht am Tattag, nicht mit dem Gerichtsgutachter
Und der Täter? Mit dem Tod seiner Mutter hat der Mann offenbar nichts zu tun: Die Leiche der 91-Jährigen finden die Ermittler nach dem Zugriff in der Wohnung, sie sitzt skelettiert in ihrem Rollstuhl. Die Frau muss seit mehreren Wochen tot sein. Bei der Durchsuchung finden die Ermittler große Mengen Benzin in der Wohnung, auch das Gefäß, aus dem der 57-Jährige es auf die Einsatzkräfte geschleudert haben soll. Auch die verschwundene Waffe taucht hier wieder auf. In Wohnung und Keller entdecken sie Dolche, Messer, eine auseinandergenommene Schreckschusspistole, auffallend große Vorräte an Lebensmitteln. Und offenbar Zettel mit Schmähschriften und Verschwörungsideen gegen den Staat und die Corona-Impfung.
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Ein Schwurbler? Der Staatsschutz jedenfalls ermittelt nicht. „Eine der großen Fragen“, sagt Kriminaldirektorin Heike Schultz am Tag danach, sei das „Warum?“. Spontan sei diese Tat sicher nicht passiert. Antworten gibt der mutmaßliche Täter bislang nicht. Einem Gutachter gegenüber hält er sich verschlossen. Es gab drei Vorstrafen wegen Körperverletzung und einen Haftbefehl, weil der 57-Jährige offenbar Bußgelder nicht bezahlt hatte. Nur eine Woche vor der Tat war ein Bezirksbeamter unverrichteter Dinge wieder gegangen, der Bewohner hatte nicht aufgemacht. Ein Nachbar aus dem Erdgeschoss, der schon als Kind mit ihm spielte, vermutet, „dass der krank war. Das kann ja nicht anders sein“. Als „schuldunfähig“ aber gilt der angebliche Anstreicher indes nicht.
Vielzahl schwerer Vorwürfe gegen den Angeklagten
Die Uniklinik Düsseldorf beurteilt ihn noch am 11. Mai als haftfähig, er kommt in Gewahrsam, einen Tag später in Untersuchungshaft – wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung in neun Fällen, wegen Herbeiführens einer Explosion, wegen Brandstiftung.
Schwarze Schleifspuren im Treppenhaus
Am Tag danach kleben im Hausflur noch Reste verbrannten Gummis auf den Stufen; jemand hat seinen schweren Stiefel verloren. Blutflecken, Verbandsmaterial, schwarze Schleifspuren an den Wänden erzählen von der verzweifelten Flucht vor dem Feuer. Im zehnten Stock hat Ruß die gelbe Wand schwarz gefärbt, der Boden liegt voller Glasscherben, überall riecht es nach Rauch.
15 Wochen danach ist der Putz noch nicht wieder überstrichen, der Name des jetzt angeklagten steht immer noch an der Klingel. Die meisten Verletzten haben das Krankenhaus inzwischen zwar verlassen können, viele aber sind noch lange nicht wieder im Dienst. Notfallsanitäter André Lampe lag drei Wochen im Koma, acht Wochen insgesamt im Schwerbrandverletztenzentrum des Bochumer Bergmannsheil. Er kämpft noch immer um seine Rückkehr ins Leben. Die 25-jährige Polizistin ist erst nach fast drei Monaten aus dem künstlichen Koma erwacht. Die verletzte Frau wird aber immer noch auf der Intensivstation behandelt.