Ruhrgebiet. Ausgangssperre im Ruhrgebiet: Wer jetzt noch auf der Straße ist, kennt die Regeln nicht – oder er hat kein Zuhause. So war die Samstagnacht.

Zehn Glockschläge hallen durch die Nacht, das Ruhrgebiet macht dicht. In den meisten Städten gilt am Samstag die Ausgangssperre. Schmerzend laut dringt das Geläut in die Stille, Samstagabende sind schon lange nicht mehr, was sie waren vor Corona: Leerer als leer kann eine Stadt nicht mehr werden.

Die Kneipen: zu. Die Restaurants: geschlossen. Die Kinos: dunkel. Die Theater: leer. Partys: keine. Das ist nun schon den ganzen Lockdown so, wo soll man also hin? Was sollten die Nachtschwärmer wollen in diesen toten Innenstädten und Partymeilen, es gibt nichts zu schwärmen. Dunkel und still ist die Nacht, auch um halb zehn schon. In Essen rattert einsam eine Rolltreppe, es ist niemand da, den sie fahren könnte. Im Bochumer Bermudadreieck surrt eine Klimaanlage, in einem Wohnhaus weint ein Kind. Der neue Sound des Samstags.

Bußgelder werden am ersten Abend noch nicht verhängt

Leerer als leer geht nicht. Durch den Lockdown war die Fußgängerzone in Essen ohnehin schon ausgestorben.
Leerer als leer geht nicht. Durch den Lockdown war die Fußgängerzone in Essen ohnehin schon ausgestorben. © Funke Foto Services | Kai Kitschenberg

Vier junge Leute streben etwas schwankend zum Hauptbahnhof, sie wollen jetzt wirklich nach Hause. Dabei haben sie gerade neue Leute kennengelernt, „zum ersten Mal seit einem Jahr“. Aber, sagt ein Mädchen, „ich habe keine Lust, 25.000 Euro zu bezahlen“. Nun, so viel verlangt ja keiner. Das neue Infektionsschutzgesetz, in dem die Ausgangssperre wohl der größte Aufreger ist, sieht zwar Zahlungen von bis zu 25.000 Euro vor, das aber nur bei „krassen Verstößen, im Wiederholungsfall, nicht aber bei Petitessen“, heißt es aus der Regierung. Bußgelder sind allenfalls dreistellig, werden am ersten Abend aber wohl gar nicht verlangt.

Freundliche Ansprache, sagt die Polizei, die gleich angekündigt hat, nicht überall und jeden kontrollieren zu können. „Keine besonderen Vorkommnisse“, melden die Ordnungskräfte, sie haben vor allem viel erklärt: Bei den meisten, die nachts auf der Straße waren, war von den neuen Regeln noch gar nichts angekommen. Von den alten indes auch nicht: Wer im Dunkeln durch leere Fußgängerzonen läuft, hat meist auch keine Maske auf – oder trägt sie auf halb acht. „Verstöße werden geahndet“, steht in Essen an jeder Laterne, aber die einzige Polizeistreife, die um kurz nach zehn am Bahnhof vorfährt, spricht die Fotografen an, die das Nichts aufnehmen wollen.

Durchfahrt durch eine betroffene Stadt ist auch nicht erlaubt

Die Menschen, die hier ziellos herumstehen, die Reisenden lässt sie unbehelligt. Man könnte hier nach 22 Uhr noch mit immerhin mehr als Zügen ankommen, aus München, Berlin, Leipzig. Und mit ebenso vielen wieder abfahren, aber nur noch durch NRW. Aber das darf eigentlich keiner, die Durchfahrt durch die Ausgangssperre ist ja auch nicht erlaubt. In einer U-Bahn Richtung Mülheim sitzen in einem Doppelzug zwei Fahrgäste. Dafür sind, das muss man sagen, auffallend viele Autos unterwegs, viele mit Kennzeichen aus anderen Städten, wo die Lage indes auch nicht besser ist.

Am Dortmunder Hauptbahnhof kommt gegen halb elf ein ICE aus Frankfurt, gerade einmal fünf Passagiere steigen aus. Unten in der Halle sprechen Bundespolizisten Menschen an, die offenkundig herumstehen: „Haben Sie einen Fahrschein? Und warum sind sie noch unterwegs? Wir haben eine Ausgangssperre.“ Das weiß auch hier nicht jeder. „Aber wenn man nur Tom & Jerry im Fernsehen guckt“, sagt ein Polizist, „und keine Zeitung liest, dann erfährt man das natürlich auch nicht.“ Deshalb erklären es die Beamten. Freundlich beim ersten Mal, etwas schärfer wenn es dumme Antworten gibt: „Ich komme gerade aus der Schule“ – samstags kurz vor Mitternacht...

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Taxifahrer warten vergeblich auf Kunden

Ein paar Taxis fahren noch, die meisten aber stehen. Und warten auf Kunden, die nicht kommen. In Bochum hatte Zeki Demir zwei Fahrten in fünf Stunden, „wir hoffen alle, dass es besser wird“. Aber erst einmal wird es schlechter für die Branche, es darf bis fünf Uhr morgens ja keiner mehr fahren, woher und wohin auch? Vor zehn Uhr hat es noch ein paar Eilige gegeben, sie strebten in Autos und Bussen heimwärts, „ich will jetzt schnell nach Hause“, sagt eine Frau, die zitternd am Busbahnhof steht. In Witten scheinen die Autos schneller zu fahren als sonst, auf Essens Kettwiger Straße eilen ein paar Leute zu Fuß bergab, sie gucken sich hektisch um, aber um fünf nach zehn ist noch kein Ordnungshüter zu sehen. In Bochum müssen sie ein paar junge Leute an die Masken erinnern, aber auch diese Gruppe will jetzt wirklich weg von der Straße, versprochen.

Obdachlose haben keinen Ort, an den sie könnten

Kontrolle in Düsseldorf: Auch die Altstadt ist wie ausgestorben.
Kontrolle in Düsseldorf: Auch die Altstadt ist wie ausgestorben. © Funke Foto Services | Kai Kitschenberg

Allerdings gibt es auch die, die können das gar nicht. Weil die Straße ihr zuhause ist. In Essen wissen die Bettler um halb elf nicht mehr, wen sie noch ansprechen sollen, sie sind jetzt bald die Einzigen hier. „Ist Ausgangssperre“, erklärt ein Mann einem anderen, „ohne Witz!“ Ist wirklich nicht witzig, sagt der Obdachlose später, er hat ja kein Zuhause: „Wo sollen wir denn hin?“

Die Polizei wird ihn nicht ansprechen. In Duisburg melden die Beamten am Sonntagmorgen, sie hätten 18 Ordnungswidrigkeitenanzeigen geschrieben, daneben hätten sich die Bürger „weitgehend an die beschlossenen Regeln gehalten“. Essen blickt zurück auf eine ruhige Nacht, in Herne vergibt die Stadt ihren Bürgern für ihr Verhalten in der ersten Nacht „eine Eins mit Sternchen“. In Dortmund habe es weniger Notrufe gegeben als an normalen Wochenenden. Hier sind Anwohner der Innenstadt über die plötzliche Ruhe bass erstaunt. „So ruhig haben wir es hier noch nie erlebt.“ Zwar hängen um kurz vor zehn noch ein paar Jugendliche mit Energy-Drinks am Wall herum, sie warten vor den geöffneten Kofferräumen ihrer Autos auf die Tuning-Szene, die sonst hier seit Monaten ihre Runden dreht. „Ist aber längst nicht so viel wie sonst an einem Samstag um diese Zeit“, sagen Mitarbeiter der Stadtreinigung.

Auch Treffen in Privatwohnungen sind nicht erlaubt

„Fast schon unheimlich“, findet eine Dortmunderin, die in der Nähe des Walls gegen 23 Uhr ihren Hund ausführt, den Abend. Das darf sie, wie auch Arbeitnehmer ihre normalen Wege machen dürfen und Jogger ebenfalls, bis Mitternacht. So ganz traut die Frau dem Frieden allerdings nicht. „Wenn es wieder wärmer wird, wird es so ruhig nicht bleiben.“ Und überhaupt: „Wer weiß, wie viele sich jetzt wieder in ihren Wohnungen treffen?“

Das ist zwar auch verboten, wird aber im privaten Raum eher nicht kontrolliert. Wohl aber der Nachhauseweg, möglichst um kurz vor zehn. Danach fährt nur noch der Lieferservice mit seinem Roller durch die Dunkelheit. Stille Nacht Ende April.

Innenminister Reul lobt die Disziplin der Menschen:

Und es war nicht nur im Ruhrgebiet beispiellos ruhig: NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hat den Bürgern in NRW ein sehr positives Zeugnis bei der Einhaltung der neuen Ausgangsbeschränkungen ausgestellt. „Aus meiner Sicht haben sich die Menschen an diesem ersten Wochenende mit Ausgangssperre großartig verhalten“, sagte der Politiker. Man könne sich da nur bedanken.

Reul hatte sich zuvor selbst einen Eindruck von der Situation gemacht und in der Nacht zu Sonntag Polizei und Ordnungsamt in Duisburg bei Kontrollen begleitet. „Wir haben auf der Straße so gut wie niemanden erlebt, es haben sich fast alle an die Regeln gehalten. Diejenigen, die wir angetroffen haben, waren auf dem Heimweg oder hatten einen wichtigen Grund“, schilderte er. Mit seiner Anwesenheit habe er „denjenigen, die sich hier die Nacht um die Ohren schlagen“, Unterstützung signalisieren wollen. „Und für die Öffentlichkeit ist das Signal wichtig, dass diese Regeln nicht nur auf dem Papier gelten, sondern dass wir es ernst meinen.“

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Reul war in der Nacht zu Sonntag auch bei Kontrollen im Duisburger Stadtteil Marxloh dabei. „Ich bin positiv überrascht, weil es nicht die einfachste Ecke in Nordrhein-Westfalen ist“, erklärte er. „Und wenn das hier so gut geklappt hat, habe ich große Hoffnung, dass die Menschen es insgesamt verstanden haben.“

>>INFO: AUCH BOTTROP GEHT ZIEHT DIE NOTBREMSE

Bottrop war im Ruhrgebiet die einzige Stadt, in der die Inzidenzen noch nicht so hoch lagen, dass die Notbremse gezogen werden musste. Nun aber verfügte die Landesregierung die Notbremse auch für diese Stadt: Ab Montag gilt die Ausgangssperre zwischen 22 und 5 Uhr, der Öffentliche Nahverkehr darf nur noch mit FFP2-Maske benutzt werden, Friseurbesuche sind nur noch mit vorherigem Bürgertest möglich.