Witten. Die meisten Menschen haben sich an Tag eins der Notbremse an die Ausgangssperre gehalten. Der historische Einschnitt und seine Folgen in Witten.
Als der Zeiger der Uhr am Busbahnhof Samstagabend (24.4.) auf die zehn vorrückt, sind noch einige Menschen unterwegs. Im 379er nach Bommern sitzen sechs meist junge Männer, auf den 376er nach Herbede-Kämpen wartet eine jungte Frau, bepackt mit Taschen. „Ich war noch einkaufen.“ Ein Mann eilt mit einem Pizzakarton vorbei. Die Autos, die man noch auf der Bergerstraße sieht, scheinen ein bisschen schneller zu fahren als sonst. Als wolle jeder nun ganz flott nach Hause komme. Ausgangssperre, Tag eins in Witten, eine noch nie dagewesene Situation, ein geradezu historischer Moment, der sang- und klanglos vorübergeht. Es ist ja niemand da. Fast niemand.
Am Kiosk in der Berliner Straße leuchtet noch „open“ für geöffnet, auch das Kebaphaus an der Post-/Ecke Bahnhofstraße hat den Ofen noch nicht abgestellt. Und der nette Busfahrer, der nach Kämpen fährt, hat auch noch Dienst bis Mitternacht. Ob noch viele Autos auf den Straßen seien, fragen wir ihn um kurz nach zehn. „Ja“, sagt er, „die fahren alle schnell nach Hause.“
Die meisten scheinen es also doch im Corona-Regelwirrwarr der letzten Tage mitbekommen zu haben, dass seit Samstag, null Uhr, die Bundesnotbremse gilt, mit der ebenso umstrittenen wie wohl einschneidendsten aller bisherigen Corona-Verordnungen, dass man das Haus bei Inzidenzwerten von über 100 an drei aufeinanderfolgenden Tagen im EN-Kreis zwischen 22 bis 5 Uhr nicht mehr verlassen darf. Es sei denn, man hat einen guten Grund. Gassi gehen zum Beispiel. Auf der Wiese im gegenüber vom Hauptbahnhof treffen sich gleich drei Herrchen und Frauchen mit Hund. Auf Abstand tauschen sie ein paar Worte.
In der Poststraße hört man Musik und Lachen, nanu, was ist denn da los? Die Geräusche kommen aus einer
Wohnung im oberen Stock. Ansonsten sind die Straßen spätestens um halb elf wie leer gefegt. Hier und da braust noch ein Auto vorbei. Passanten sind kaum zu sehen, nur einige wenige Einzelpersonen. Spazieren gehen und joggen darf man alleine ja noch, bis 24 Uhr. Ob der ältere Radfahrer, der uns auf der Bahnhofstraße entgegenkommt, auch unter diese Regelung fällt? Oder der Obdachlose, der scheppernd einen Einkaufswagen übers Pflaster schiebt?
Wir biegen ab ins Wiesenviertel, vom Himmel leuchtet ein fast runder Mond die gespenstisch leeren Straßen aus. Es ist fast so still wie an Heiligabend. Nur die Tanne in den Wohnzimmer fehlt. Dafür läuft der Fernseher.
Tagsüber war in der Stadt am Samstag noch einiges los. Die Geschäfte nutzen den letzten Tag für „Test, click & meet“, das Einkaufen mit negativem Coronatest. Vereinzelt sieht man noch Kunden in den Läden. Ab Montag (26.4.) ist es auch damit wieder vorbei. Weil die Inzidenzwerte im Kreis an drei Tagen hintereinander die 150 überschritten haben, greift auch hier die Notbremse. Die Läden müssen wieder schließen und zu „Click & collect“ zurückkehren, bestellen und abholen.
In der Stadtgalerie hämmern und bohren sie gerade, um das neue Testzentrum im ehemaligen Ladenlokal von Esprit herzurichten. „Es kommt leider 14 Tage zu spät“, sagt Intersport-Händler Feti Güvenc aus dem Untergeschoss mit Blick auf die nun greifende Notbremse. Immerhin, hätten die zuletzt noch erlaubten Einkäufe mit Negativtest ein bisschen was gebracht. Auch bei Bijou Brigitte, H & M, Kult oder Saturn, die noch geöffnet sind, sieht man an diesem Samstag vereinzelt noch Käufer. Schnell noch was besorgen vor dem nächsten Shutdown.
Die Passanten in der Fußgängerzone genießen die Sonne, schlecken ein Eis, und kritisieren wie die meisten Händler die nun geltende Ausgangssperre. „Blödsinn“, sagt Thomas Kohnke (59) und seine Lebenspartnerin Reinhild Tetz (53) ergänzt: „Corona ist den ganzen Tag, nicht nur von 22 bis 5 Uhr.“ „Das bringt doch nichts“, sagt der Kartoffelhändler morgens auf dem Markt und am Stand beim Bäcker heißt es: „Die Leute finden immer Mittel und Wege, um sich zu treffen.“ Ausgerechnet zwei junge Frauen, die von vielen Treffen Jugendlicher am Abend wissen, sprechen sich für das Verbot aus. Chantal (22) bringt es so auf den Punkt: „Kacke, aber sinnvoll!“