Düsseldorf. Hendrik Wüst war mal ein kantiger Konservativer. Heute gibt er sich flexibel in den Ansichten. Hat er Politik besser verstanden als andere?
Als Hendrik Wüst noch NRW-Verkehrsminister war, traf man ihn mittags schon mal in der Landtagskantine und erlebte, wie er die „vierte Wand“ durchbrach. So nennt man das Stilmittel, wenn der Darsteller eines Films plötzlich direkt das Publikum anspricht und die Handlung reflektiert.
Wüst konnte in solchen Momenten auf Abstand zu sich selbst gehen und erstaunlich abgeklärt, bisweilen witzig über die Absurditäten des Politikbetriebs, die Mechanismen der Macht und das eigene Tun sprechen. War der Teller leer, wünschte er „einen schönen Tach noch“ und kehrte zurück in seine Rolle.
Mit 15 in der Jungen Union, mit 46 Regierungschef
Wer Wüst bei solchen Gelegenheiten zuhörte, bekam eine Ahnung davon, dass dieser Mann die Regeln seines Metiers besser verstanden hat als andere. Der heutige NRW-Ministerpräsident hat alles von Klein auf verinnerlicht: Mit 15 Junge Union, mit 19 Stadtverordneter, mit 30 Landtagsabgeordneter, mit 31 CDU-Generalsekretär, mit 41 Landesminister, mit 46 Regierungschef.
Wüst ist Volljurist, war mal bei der Lobbyagentur Eutop und hat nebenberuflich als Geschäftsführer des Zeitungsverlegerverbandes NRW gearbeitet, doch eigentlich hat er nie etwas anderes gewollt als Politik.
Eine Mischung aus Christian Wulff und dem „netten Herrn Kaiser“
„Hendrik Wüst hatte immer nur ein Ziel: in der Politik Karriere zu machen. Der hat schon in der Schule erzählt: Ich werde Politiker“, sagte dieser Tage der ehemalige Bürgermeister aus Wüsts Heimatstadt Rhede im Münsterland, Lothar Mittag (Grüne), der „taz“. Der Ministerpräsident werbe zwar mit dem Slogan „Machen, worauf es ankommt“, wisse aber selbst nicht, was das eigentlich sei.
Dafür, dass sich beide lange kennen und duzen, klingt die Beschreibung wenig schmeichelhaft. Auch in Wüsts schwarz-gelber Regierungskoalition wird hinter vorgehaltener Hand gelästert, der Chef positioniere sich „grundsätzlich nach Umfrage- und Presselage“. Er galt mal als kantiger Konservativer. Heute kommt er eher als Mischung aus dem jungen Christian Wulff und dem netten Herrn Kaiser von der Hamburg-Mannheimer daher.
Von Kohleausstieg bis Flüchtlingspolitik: Wüst gibt sich in seinen Ansichten flexibel
Kohleausstieg 2030 – an Wüst, der mal den CDU-Wirtschaftsflügel führte, soll es nicht scheitern. 12 Euro Mindestlohn – findet Wüst jetzt auch gut. „Wir schaffen das“ – der einstige Kritiker der Merkel‘schen Flüchtlingspolitik schlägt im Ukraine-Krieg plötzlich Kanzlerinnen-Töne an. Corona-Impfpflicht – sollte erst unbedingt kommen und ist jetzt nicht mehr so wichtig. „Eine warme Wohnung darf kein Luxus sein“ – Wüst hat heute ein Herz für Mieter.
Man muss diese Wendigkeit aber als Professionalität übersetzen. Wüst berechnet genau, wo Mehrheiten sind und gilt als „lernendes System“. Selbst Parteifreunde, die nie viel mit ihm anfangen konnten, loben Fleiß und Organisationstalent. „Wüst ist unheimlich gereift und hockt schon lange nicht mehr im ideologischen Schützengraben“, sagt einer, der ihn lange kennt.
„Abteilung Attacke“: Als Generalsekretär war Wüst ab 2006 der Mann fürs Grobe
Wüst startete als Haudrauf in die Berufspolitik. Er war als junger Generalsekretär des damaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU) der Mann fürs Grobe. Wüst gehörte gemeinsam mit Markus Söder zur wortflinken Nachwuchsgarde der Union und sorgte mit Vorschlägen für Aufsehen, Arbeitslose sollten auf Spielplätzen Drogenspritzen und Hundekot aufsammeln. Damals gab es noch einen Markt für solche Töne.
„Jeder Mensch hat zwischen 29 und 47 eine Phase, in der er ein bisschen ruhiger wird, und das hat wahrscheinlich nicht geschadet“, sagt er rückblickend. Heute will Wüst als „moderner Konservativer“ gesehen werden. An seinem Amtsvorgänger, dem Unglücksraben Armin Laschet, konnte er in Nahaufnahme studieren, dass Überzeugungen, politische Lebensthemen und Authentizität wertlos sind, wenn man sich dem Publikum nicht vermitteln kann.
Beide haben einen gegensätzlichen Zugang zur Politik: Während der rheinische Bauchmensch Laschet nie akzeptiert hat, dass ein Regierungschef immer auch Projektionsfläche sein muss, hat sein gewiefter Machterbe Wüst immerzu Oberflächenpolitur zur Hand.
Zitate, Anekdoten, Bilder – alles wirkt choreografiert
Er weiß eben: In einer kurzatmigen Social Media-Gesellschaft müssen Botschaften und Bilder sitzen. Rezeption ist heute fast wichtiger als das Regierungsrezept. Öffentlich spricht Wüst automatenhaft in Hauptsätzen, um keinen Interpretationsspielraum zu bieten, und lässt sich täglich bei Fototerminen ins rechte Licht rücken.
Zitate, Anekdoten, Bilder – alles wirkt choreografiert. Selbst sein Privatleben und das späte Vaterglück verbaute er in einer Regierungserklärung.
2010 musste Wüst im Zuge der „Rent a Rüttgers“-Affäre als Generalsekretär zurücktreten. Die CDU-Landesgeschäftsstelle hatte Sponsoren Gespräche mit dem Ministerpräsidenten gegen Geldzuwendungen angeboten. Im selben Jahr starb auch sein Vater, ein Handelsvertreter für Textilmaschinen.
Wenn Wüst heute auf sein Risiko angesprochen wird, als Ministerpräsident mit der kürzesten Amtszeit in die NRW-Geschichte einzugehen, nimmt er Bezug auf die damalige Lebenskrise: „Meine Karriere war schon mal zu Ende, das gibt Gelassenheit.“ Ist er wirklich so cool? Es klingt zumindest so gut, dass man es aufschreibt.
>>> EIN MANDAT ALS JOKER
Hendrik Wüst war nicht der Wunschnachfolger von Armin Laschet, als nach dem historischen Bundestagswahldebakel ein neuer Ministerpräsident und CDU-Landeschef im richtigen Alter mit Regierungserfahrung gesucht wurde.
Der Verkehrsminister aus dem Münsterland besaß jedoch einen Joker, den potenzielle Konkurrenten nicht auf der Hand hatten: Er ist seit 2005 Mitglied des Landtags. Es ist eine Besonderheit der NRW-Verfassung, dass der Ministerpräsident aus der Mitte des Parlaments gewählt werden muss. So führte im Oktober 2021 kein Weg an Wüst vorbei.
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