Berlin. Die Ampel-Regierung will den gesetzlichen Mindestlohn auf 12 Euro anheben. Das könnte fast zehn Milliarden Euro mehr Kaufkraft bringen.
Viele Beschäftigte können sich im Januar über mehr Geld freuen. Der gesetzliche Mindestlohn ist zum 1. Januar um 2,29 Prozent gestiegen: von 9,60 Euro auf nun 9,82 Euro. Um die zuletzt hohe Inflation – im November lag die Teuerungsrate bei 5,2 Prozent – auszugleichen, reicht diese Erhöhung zwar nicht aus.
Doch ist sie nur der Beginn eines saftigen Gehaltsanstiegs. Denn noch vor der nächsten geplanten Erhöhung – am 1. Juli würde der Mindestlohn planmäßig auf 10,45 Euro steigen – könnten SPD, Grüne und FDP den Mindestlohn auf zwölf Euro anheben.
Mindestlohn: Bundesregierung will Erhöhung zeitnah auf den Weg bringen
Der Mindestlohn von zwölf Euro ist ein zentrales Wahlkampfversprechen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gewesen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bekräftigte in der vergangenen Woche gegenüber unserer Redaktion, dass die Bundesregierung mit „Hochdruck“ an der Erhöhung arbeite.
Das Vorhaben der Ampel-Koalition ist aber umstritten. Zwar erwiesen sich vor der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 erstellte Prognosen, die eine Massenarbeitslosigkeit vorhersagten, als falsch. Trotzdem sind manche Volkswirte skeptisch, was eine Erhöhung um immerhin satte 22 Prozent vom derzeitigen Niveau angeht. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber erwägt sogar eine Klage.
Mindestlohn-Anhebung könnte 9,8 Milliarden Euro mehr Kaufkraft erzeugen
Auf der anderen Seite stehen die Befürworter, die einen höheren Mindestlohn nicht als Belastung für die zuletzt ohnehin schon gebeutelte Wirtschaft verstehen, sondern auf positive konjunkturelle Effekte setzen.
Tatsächlich würde eine Mindestlohnerhöhung die Kaufkraft von rund 7,2 Millionen Beschäftigten deutlich steigern, wie eine Berechnung des Hannoveraner Pestel-Instituts im Auftrag der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) zeigt: Eine Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro würde die Kaufkraft demnach um 9,8 Milliarden Euro anheben.
Selbst wenn die Erhöhung erst nach Juli und dem dann geltenden Mindestlohn von 10,45 Euro käme, würde das Plus der Berechnung zufolge immer noch bei 7,6 Milliarden Euro liegen.
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Gebeutelte Branchen könnten profitieren
Das Geld könnte in die zuletzt von der Corona-Pandemie gebeutelten Branchen fließen, vermutet Institutsvorstand Matthias Günther. „Der Tourismus und der Einzelhandel, vor allem im Bereich Nahrungsmittel und Bekleidung, könnten profitieren“, sagte der Ökonom unserer Redaktion.
In diesen Bereichen seien Menschen am ehesten bereit, sich einzuschränken, wenn das Geld knapp werde. Im Umkehrschluss werde es ebendort ausgegeben, wenn plötzlich Geld übrig bleibt. Dass die Mehreinnahmen größtenteils gespart werden, glaubt Günther nicht. „Untersuchungen zeigen sehr deutlich, dass die Sparquote in den unteren Einkommensregionen gering ist“, sagt der Chef des Pestel-Instituts.
IG-BAU-Chef hofft auf „lohngeneriertes Konjunkturpaket“
Zugleich sei die Schuldenquote deutlich geringer als in der untersten Einkommensgruppe, die auf Transferleistungen angewiesen ist. Entsprechend fließe das Geld auch nicht in den Schuldenabbau – sondern werde eher genutzt, um sich etwas zu gönnen: „Wer jahrelang keinen Urlaub gemacht hat und nun plötzlich zum ersten Mal seit Langem etwas Geld übrig hat, fährt lieber an die Nordsee, als es direkt wieder zur Seite zu legen“, sagt Günther. Er rechnet damit, dass mehr als 90 Prozent der Kaufkraftzuwächse in den Konsum fließen werden.
Ein „kleines lohngeneriertes Konjunkturpaket“ erhofft sich angesichts der Ergebnisse Robert Feiger, Bundesvorsitzender der IG Bau und Mitglied der neunköpfigen Mindestlohnkommission. Feiger forderte gegenüber unserer Redaktion, die geplante Erhöhung zügig umzusetzen, ehe die Mindestlohnkommission sich wieder um die regelmäßige Anhebung kümmere. „Ziel muss es sein, prekäre Beschäftigung zu bekämpfen und den Niedriglohnsektor mehr und mehr auszutrocknen“, sagte Feiger.
Arbeitgeber sehen Tarifautonomie verletzt
Der Mindestlohn sei dabei allerdings nur die zweitbeste Lösung, so der Gewerkschaftschef. „Entscheidend sind gute Tariflöhne. Und dazu ist es notwendig, möglichst viele Betriebe in der Tarifbindung zu haben“, sagte Feiger.
Doch genau hier sehen viele Arbeitgeber den Knackpunkt bei der geplanten Erhöhung. Die Tarifautonomie sichert den Sozialpartnern zu, Tarifverträge auszuhandeln, ohne dass der Staat sich einmischt. Entsprechend hält Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger die Ampel-Pläne auch für eine „grobe Verletzung“ der Tarifautonomie. Bereits im Herbst hatte er im Gespräch mit unserer Redaktion davor gewarnt, dass mit der gesetzlichen Anhebung in über 190 Tarifverträge eingegriffen werden würde – über 570 tariflich ausgehandelte Lohngruppen würden demnach überflüssig werden.
Gefahr von Verstößen steigt
Und noch ein Problem könnte hinzukommen: Da deutlich mehr Beschäftigte künftig den gesetzlichen Mindestlohn erhalten, braucht es auch mehr Kontrollen, ob dieser eingehalten wird. Allein bis Ende November des vergangenen Jahres ermittelte die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls in mehr als 3000 Fällen wegen Mindestlohnverstößen.
Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) kam in einer im Dezember veröffentlichten Studie zu dem Schluss, dass ohne Mindestlohnunterschreitungen die Quote derer, die zu verarmen drohen, schon heute um einen halben Prozentpunkt gesenkt werden könnte – und damit um denselben Wert, den auch eine Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro mit sich bringen würde.