Brüssel/Straßburg. . Sie tragen keine Regierung, sie können keine Gesetze auf den Weg bringen und sind als Sammelbecken von rund 160 nationalen Parteien ein reichlich bunter Haufen. Doch das EU-Parlament ist keine Volksvertretung zweiter Klasse. Es funktioniert nur anders. In manchen Hinsicht hat es sogar mehr zu sagen.

Als das Bundesverfassungsgericht zunächst die Fünf-Prozenthürde für die Europawahl in Deutschland kippte und dann auch eine Sperre von drei Prozent verwarf, verwies es zur Begründung auf Unterschiede zum Bundestag: „Eine vergleichbare Interessenlage besteht nicht.“ Das EP wähle keine Regierung, kenne keine Opposition, bilde keine stabilen Mehrheiten oder gar Koalitionen. Die Stimme des Wählers sei, je nach Mitgliedsstaat, unterschiedlich viel wert. Zudem sei das Straßburger Plenum schon jetzt von einer Vielzahl Parteien bevölkert. Ein paar kleine aus Deutschland könnten da kaum zusätzlichen Schaden anrichten. Unter diesen Umständen sei spezieller Schutz durch eine Zugangsschwelle überflüssig. Grundbotschaft aus Karlsruhe: „Ihr seid gar kein richtiges Parlament!“

Die Verstimmung der Adressaten über die abfällige Begutachtung durch die deutschen Verfassungshüter ist nachhaltig und parteiübergreifend. „Die verkennen die europäische Regierungsarchitektur“ sagt der FDP-Vormann Alexander Graf Lambsdorff. „Ein nicht gerechtfertigter Zungenschlag“, schimpft die Grüne Helga Trüpel.

EU-Parlament hat an Gewicht gewonnen

In der Tat ist eines merkwürdig (und wurde in einem Minderheitenvotum auch von zweien der Karlsruher Richter festgehalten): 1979, als das EU-Parlament zum erstenmal direkt gewählt wurde, hatte das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozenthürde noch gebilligt. Seither hat aber das Hohe Haus zu Straßburg Zug um Zug, von Vertrag zu Vertrag, an Gewicht gewonnen. Es ist nun zusammen mit dem Ministerrat, der Vertretung der nationalen Regierungen, fast flächendeckend gleichberechtigter Gesetzgeber.

In der letzten Plenartagung behandelten die EU-Parlamentarier rund 70 „Dossiers“ und Gesetze: von der Bankenunion über das Recht aufs Giro-Konto bis zur der Gebührenpflicht für Plastik-Tüten und die Einführung eines Einheitssteckers für Elektro-Autos. Der Lissabonner Vertrag hat die „Mit-Entscheidung“ noch einmal um 40 Sachbereiche erweitert, unter anderem um Landwirtschaft, Migration, Justizpolitik. In der nächsten Legislatur bekommt das EP auch die Kontrolle über den gesamten Haushalt der EU.

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In einem hat Karlsruhe recht: Im Unterschied zu den Gegenstücken in den Mitgliedstaaten ist die EU-Bürgerkammer kein Scharnier zwischen Regierung und Opposition. Auf europäischer Ebene ist Politik nicht Zwei-, sondern Dreikampf - das Ergebnis des Mit- und Gegeneinanders der Hauptinstitutionen Kommission, Ministerrat und Parlament.

Von "Schwatzbude" kann keine Rede mehr sein

In diesem Machtdreieck braucht der Chef der Brüsseler Kommission die Zustimmung des Parlaments. „Das ist unsere Macht“, sagt FDP-Mann Lambsdorff. „Es ist wie im US-Kongress: Wir können den Präsidenten stürzen!“ Chef der Kommission wird nur, wer sich neben der Unterstützung der Mitgliedstaaten die Mehrheit der Abgeordneten sichert. Die wollen ihre Entscheidung zum ersten Mal an die des Wähler binden: Wenn der also für ein einigermaßen klares Votum sorgt, wird entweder der Luxemburger Jean-Claude Juncker als Spitzenkandidat der Christdemokraten oder sein sozialdemokratischer Konkurrent Martin Schulz nächster Chef der EU-Zentrale.

Von Machtlosigkeit („Schwatzbude“) kann also kaum mehr die Rede sein. In Sachen Transparenz sind die EU-Volksvertreter den nationalen Kollegen ebenfalls mindestens ebenbürtig: Die Ausschüsse tagen grundsätzlich öffentlich. Was müsste sich ansonsten ändern? Die meisten Vorschläge zur Selbstverbesserung gehen in eine Richtung: Mehr Konzentration aufs Wesentliche, weniger Klein-Klein und Detailversessenheit bei der Ausgestaltung von Gesetzen. Was den „Wanderzirkus“ anlangt, die ewige Pendelei zwischen Straßburg und Brüssel, die pro Jahr rund 200 Millionen Euro kostet, tun die Abgeordneten, was sie können. Erneut haben sie einen Vorstoß gestartet, den Mitgliedsstaaten ein Ende des aufwendigen . Die Regierungen haben freilich in diesem Punkt das letzte Wort.