Straßburg/Brüssel. Unter den 766 EU-Parlamentariern ist nur einer mit einer Behinderung. Das wird sich wohl auch nach der Wahl im Mai nicht ändern. Bei einem Bevölkerungsanteil von zehn Prozent in Europa wundert es nicht, dass sich Menschen mit Behinderungen unterrepräsentiert fühlen. Braucht es eine Quote?
Ádám Kósa ist im EU-Parlament ein Unikum. Denn der Ungar ist der einzige Abgeordnete mit einer Behinderung - er ist gehörlos. Ihm gegenüber stehen 765 ohne Behinderung. In Prozent bedeutet dies: Nur 0,13 Prozent der Abgeordneten sind "disability persons". Bei einem Bevölkerungsanteil von zehn Prozent in Europa ein schlechter Schnitt. Denn nach wie vor schaffen es Behinderte fast nie auf die Wahllisten der Parteien.
"Hoffentlich wird sich dies nach der bevorstehenden Wahl am 25. Mai ändern", sagt Kósa, der sich als Pionier und Vorbild fühlt, denn seit seinem Einzug vor fünf Jahren hätte er seinen Kollegen bewiesen, dass ein Politiker auch mit einer Behinderung effektiv arbeiten kann. "Niemand wusste zunächst, wie man mit mir umgehen sollte", erinnert er sich. Einige hätten versucht, lauter zu sprechen, andere hätten plötzlich alles auf ein Stück Papier geschrieben.
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Eine Quotierung, wie sie die SPD beispielsweise für Frauen habe, könne helfen, den Anteil zu erhöhen, sagt Martin Schulz. Der SPD-Politiker ist seit 1994 Mitglied des EU-Parlaments, seit 2012 dessen Präsident. "Trotzdem ist eine Quote kein Allheilmittel und sie wirft immer auch die Frage auf, welche Gruppen Anspruch auf eine solche Quotierung haben", relativiert der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, der Kommissionspräsident werden will, sogleich seine Aussage.
Menschen mit Behinderungen sind eine Bereicherung
Alternative Lösungen kann Schulz aber ebenso wenig geben wie eine Erklärung, warum die SPD, der es "seit 150 Jahren darum geht, Ausgrenzung zu vermeiden", im November bei ihrem Bundesparteitag eine Quote abgelehnt hat. Menschen mit Behinderungen seien die "weltweit am meisten diskriminierte und politisch unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppe", hieß es in einem Antrag der SPD-Arbeitsgemeinschaft behinderter Menschen, kurz "Selbst Aktiv".
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Für Karl Finke, blinder Behindertenbeauftragter in Niedersachsen und als Bundesvorsitzender von "Selbst Aktiv" Autor des Antrags, ist die Ursache klar: "Es geht um Macht." Nichtbehinderte Politiker wollten diese nicht verlieren. Finke hat wegen seiner klaren Worte nicht nur Freunde in der SPD. Seine Aussagen passen oft nicht in das Bild, das die Partei vermitteln will. Wer für Frauen und Migranten eine Quote reklamiere, "diese aber Menschen mit Behinderungen verwehrt, hat ein Menschenbild erster und zweiter Ordnung", schimpft Finke.
Menschen mit Behinderungen seien eine Bereicherung für Parlamente, sagt Schulz. Gründe, warum es dennoch kaum einer auf eine Wahlliste schafft, hat er nicht. Doch er findet es "fatal". Kósa betont, dass Menschen mit Behinderungen keine Sonderrechte wollen, sondern nur die Gewährleistung der bereits für alle vorgesehenen Rechte.
Behinderte finden ihre Bedürfnisse nicht in den Listen wieder
Ähnlich äußert sich der CDU-Spitzenkandidat für die EU-Wahl, der ehemalige niedersächsische Regierungschef, David McAllister. "In der CDU sind Kandidaten mit oder ohne Behinderung, die für ein Amt oder Mandat kandidieren möchten, gleichermaßen willkommen", sagt er. Dies sei aufgrund des christlichen Menschenbildes der Partei "für uns ganz selbstverständlich". Das Ergebnis ist aber ein anderes. Auch bei den Christdemokraten findet sich niemand mit Behinderung auf der Liste.
Finke bezeichnet diese Phänomen als "gläsernen Deckel", er verhindere, dass sich Behinderte bei der Vergabe der Listenplätze durchsetzen könnten. In der SPD hätte es mit ihm sogar einen politisch erfahrenen Interessenten gegeben. "Ich war einer der möglichen Kandidaten, ich wäre bereit gewesen", sagt er. Doch ohne Quote habe auch er es nicht geschafft. "Deshalb ist eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu erwägen." Zudem wolle er nun zusammen mit dem Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter ein Bündnis sozialer Bewegungen und gegen politische Ausgrenzung organisieren.
Die fehlenden Kandidaten mit Behinderungen haben auch Konsequenzen auf die Wahlbeteiligung, denn Behinderte finden sich und ihre Bedürfnisse laut Finke nicht in den Listen wieder. Nur 49 Prozent der 18 bis 29-Jährigen mit Behinderung gaben in Deutschland bei den vergangenen Wahlen ihre Stimmen ab. In der Gruppe der Gleichaltrigen ohne Behinderung lag die Wahlbeteiligung dagegen bei 71 Prozent. Schulz bringt das Problem fehlender Partizipation für Behinderte auf den Punkt: "Sicher müssen alle Parteien da besser werden." (dpa)