Berlin. . Das Verfassungsgerichts hat die Drei-Prozent-Hürde für die Wahl des Europaparlaments gekippt. Das erhöht die Chancen für extreme und populistische Gruppierungen. Die wichtigsten Frane und Antworten rund um das umstrittene Urteil der Karlsruher Richter.
Freude bei Kleinst-Parteien, düstere Befürchtungen in der Koalition: Das Bundesverfassungsgericht hat die Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl als unvereinbar mit dem Grundgesetz gekippt. Die Folgen und die Hintergründe:
Was heißt das Urteil für die Europawahl?
Schon bei den nächsten Wahlen am 25. Mai ist die Drei-Prozent-Klausel hinfällig, ohne dass das Wahlgesetz eilig geändert werden muss. Es genügen für eine Partei etwa ein Prozent der Stimmen, unter Umständen auch weniger, um einen der 96 deutschen Parlamentssitze zu bekommen: Die Zahl der bislang sechs deutschen Parteien mit Europa-Mandat dürfte sich etwa verdoppeln.
Welche Parteien profitieren?
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Legt man das Wahlergebnis von 2009 zugrunde, dann hätten laut Bundeswahlleiter sieben Parteien zusätzlich je einen Abgeordneten gestellt (siehe Grafik). Profiteur ist aber auch die FDP, die nun fest mit dem Wiedereinzug rechnen kann; die eurokritische Alternative für Deutschland liegt in Umfragen bei sechs Prozent. Für CDU, CSU, SPD, Grüne und Linke wird damit der Mandats-Kuchen kleiner. Die deutsche Gruppe der EU-Parlamentarier wird bunter, möglicherweise auch extremer: Auch die NPD, die 2009 nicht antrat, bewirbt sich diesmal.
Kippt jetzt die Fünf-Prozent-Hürde bei Bundes- und Landtagswahlen?
Vorerst nicht. Das Bundesverfassungsgericht sieht strukturelle Unterschiede zwischen nationalen Parlamenten und Europaparlament: Auf EU-Ebene gebe es keinen Gegensatz von Regierung und Opposition – deshalb sei auch eine stabile Mehrheit für die Wahl und Unterstützung einer handlungsfähigen Regierung nicht notwendig, in Bundes- und Landtagen dagegen schon. Wiederholt haben die Richter Klagen gegen die Fünf-Prozent-Hürde in Bundes- und Landtagen abgewiesen, dabei auf die drohende starke Zersplitterung des Parlaments abgehoben. Allerdings: Seit bei der Bundestagswahl 2013 fast 16 Prozent der gültigen Stimmen für Kleinst-Parteien unberücksichtigt blieben, plädieren namhafte Experten dafür, die Hürde auf drei Prozent zu senken.
Haben Splitterparteien jetzt Aufwind?
Kleinparteien können Anhänger künftig besser mobilisieren, weil sie erstmals reale Chancen haben. Ein Mandat im EU-Parlament wertet sie auf, bedeutet mehr Öffentlichkeit, auch mehr Geld. Von der Wahlkampfkostenerstattung profitieren die Kleinen allerdings heute schon, wenn sie mindestens 0,5 Prozent der Stimmen erhalten.
Wie ist das Urteil begründet?
Die Richter sehen in der Drei-Prozent-Hürde einen Verstoß gegen die Verfassungsgrundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien. Jede Stimme müsse den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben – und bei der Verhältniswahl auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments. Sperrklauseln seien nur aus zwingenden Gründen erlaubt, vor allem wenn die Zersplitterung die Funktionsfähigkeit des Parlaments störe.
Was sagen die Kläger?
19 Gruppierungen hatten geklagt, sie sehen sich bestätigt. Mit dem Urteil sei gewährleistet, dass bei der Europawahl nicht wieder Millionen Wählerstimmen unter den Tisch fielen, meinte etwa Piratenpartei-Chef Thorsten Wirth.
Wie reagieren die Kritiker?
Politiker von Union und SPD warnen vor einer weiteren Zersplitterung des EU-Parlaments und beklagen, das Gericht habe dessen Machtzuwachs nicht ausreichend gewürdigt. Zudem ebne das Urteil den Weg auch für Rechtspopulisten und Anti-Europäer, sagte etwa SPD-Vize Ralf Stegner. So hat nun auch die NPD eine Chance auf einen Sitz im Parlament.
Bekommt der Bundestag Ärger?
Nein. Zwar hatte das Verfassungsgericht 2011 bereits eine Fünf-Prozent-Hürde für das EU-Parlament gekippt – die Drei-Prozent-Schwelle hatte der Bundestag dann als Reaktion 2013 eingeführt. Aber das Gericht bescheinigte dem Bundestag ausdrücklich, es habe die frühere Gerichtsentscheidung nicht bewusst missachtet, sondern gerade „in Auseinandersetzung mit dem Urteil gehandelt.“ Zudem hatte das EU-Parlament 2012 die Mitgliedsstaaten aufgefordert, Mindestschwellen für die Europawahlen festzulegen. Im Europäischen Parlament sind schon 160 Parteien aus ganz Europa vertreten.