Berlin. Die Sicherheitsvorkehrungen in Magdeburg hatten eine große Schwachstelle. Der Täter Taleb A. war Polizei und Justiz seit Jahren bekannt.
Nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg mit mehreren Toten und mehr als 200 Verletzten stellt sich die Frage, ob die Tat hätte verhindert werden können. Die Debatte hat bereits eingesetzt und dürfte vor der anstehenden Bundestagswahl noch an Schärfe gewinnen. Der Amokfahrer Taleb A. war am Freitagabend mit einem Mietwagen in den Markt gerast. Die Behörden sind bislang in drei Punkten unter Rechtfertigungsdruck geraten: In Bezug auf das Sicherheitskonzept für den Weihnachtsmarkt, mit Blick auf vorangegangene Warnungen vor dem polizei- und justizbekannten Täter sowie hinsichtlich dessen umfangreichen, oft kruden Aktivitäten im Internet, die offenbar keine Konsequenzen hatten. Ein Überblick.
Todesfahrer nutzte die Notfallgasse
Weihnachtsmärkte sind häufig mit Betonpollern umgeben, um Amokfahrten oder Unfälle mit Autos zu verhindern. Das war auch in Magdeburg am Alten Markt der Fall. Es gab aber eine Schwachstelle: Die Notfallgasse, durch die Krankenwagen und Rettungskräfte hätten fahren sollen, wenn auf dem Gelände etwas passiert und Besucher medizinisch versorgt werden müssen. Taleb A. nutzte diesen wunden Punkt aus, als er am Freitagabend kurz nach 19 Uhr das gemietete BMW-SUV auf den Weihnachtsmarkt steuerte.
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Eigentlich hätten so genannte „mobile Absperrungen“ wie Polizeiwagen den wenige Meter breiten Weg blockieren müssen. Das war aber nicht der Fall. Offenbar hatte der Todesfahrer genügend Platz, um mit seinem großen, schweren Auto durchzukommen. Die Polizei sagte nach den Ereignissen von Freitag, der Schutz des Weihnachtsmarkts sei insgesamt gut gewesen. Es habe aber offenbar „wunde Punkte“ gegeben. Magdeburgs Beigeordneter für Personal, Bürgerservice und Ordnung, Ronni Krug, sagte am Wochenende, das Sicherheitskonzept sei „nach bestem Wissen und Gewissen“ erstellt und zuletzt im November verschärft worden.
Taleb A. war den Behörden bekannt
Der Täter stammt aus Saudi-Arabien, lebt seit 2006 in Deutschland, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie ein erklärter Gegner des Islam. Der Chef des Bundeskriminalamts, Holger Münch, sagte, es gebe keinen Hinweis auf einen islamistisch motivierten Anschlag. Der Direktor der Magdeburger Polizei, Tom-Oliver Langhans, berichtete am Wochenende, es sei in der Vergangenheit eine Strafanzeige gegen Taleb A. aufgenommen worden. Es sei beabsichtig gewesen, eine so genannte „Gefährderansprache“ vorzunehmen – also ein vorbeugendes Gespräch zu suchen. Warum es dazu nicht gekommen ist, werde nun ermittelt.
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Taleb A. ist den hiesigen Sicherheitsbehörden und der Justiz seit langem bekannt: Bereits 2013 hatte das Landgericht Rostock den Mann wegen „Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten“ zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 10 Euro verurteilt. Er soll laut „Spiegel“ der Landesärztekammer in Mecklenburg-Vorpommern telefonisch mit einem großen Anschlag gedroht haben. Anlass war ein Streit über die Anerkennung von Prüfungsleistungen. Im Zuge seiner Facharztausbildung lebte Taleb. A. mehrere Jahre in dem Bundesland.
Vor mehr als einem Jahr gab es wegen suspekter Tweets Warnungen aus Saudi-Arabien. In einer der Kurznachrichten war zu lesen, Deutschland werde einen „Preis“ zahlen für seinen Umgang mit Flüchtlingen aus dem Königreich. Die Warnungen soll über das Bundekriminalamt beim Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt gelandet sein. Dort gelangte man aber zu der Einschätzung, dass von Taleb A. keine Gefahr ausgehe. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) teilte mit, es habe im Spätsommer des vergangenen Jahres einen Hinweis zu dem Mann erhalten und diesen auch ernst genommen. Der Hinweisgeber sei wie in solchen Fällen üblich „direkt an die verantwortlichen Behörden verwiesen“ worden.
Im Februar dieses Jahres soll Taleb A. laut „Spiegel“ auf einer Berliner Polizeiwache erschienen sein, um selbst eine Anzeige zu erstatten. Er soll wirre Angaben gemacht haben und mit dem Verhalten der Beamten unzufrieden gewesen sein. Schließlich wurde gegen ihn ein Strafbefehl wegen des „Missbrauchs von Notrufen“ erlassen, gegen den der Saudi Einspruch einlegte. Am vergangenen Donnerstag – also dem Tag vor dem Anschlag von Magdeburg – sollte darüber vor dem Amtsgericht Tiergarten verhandelt werden. Taleb A. erschien jedoch nicht zu dem Termin. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kündigte derweil zusätzliche Ermittlungen an, um herauszufinden, welche Behörden in der Vergangenheit bereits Kontakt zu dem Täter hatten.
Drohungen und viel wirres Zeug im Internet
Taleb A. nutzt die Sozialen Medien seit Jahren sehr umfangreich. Auf seinem Konto beim Kurznachrichtendienst X (ehemals Twitter) finden sich Tausende Nachrichten auf Arabisch und Englisch. In Postings äußerte der Mediziner und Anti-Islam-Aktivist immer wieder Sympathien für die AfD, die in einigen Bundesländern vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. Taleb A. bewundert auch den Unternehmer und Multimilliardär Elon Musk, der zum engsten Kreis um den gewählten US-Präsidenten Donald Trump zählt und zahlreiche Positionen der amerikanischen Rechten übernommen hat. Auf dem X-Profil wurden immer wieder auch Tweets veröffentlicht, die sich an bekannte Rechtsextremisten wie den Österreicher Martin Sellner richteten.
Taleb A.s Profilbild bei X zeigt ein Schnellfeuergewehr. In einem Posting kündigte er im August 2023 offenbar an, 20 Deutsche töten zu wollen. Dies ist augenscheinlich die Nachricht, die wie oben beschrieben einen anderen User veranlasste, sich an das Bamf und später an die Polizei zu wenden. Anfang Dezember schrieb Taleb A. bei X mit Blick auf die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), diese solle „den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen, als Bestrafung für ihr kriminelles Geheimprojekt, Europa zu islamisieren“. Wenn die Todesstrafe wieder eingeführt werde, verdiene Merkel es, getötet zu werden.
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Vor anderthalb Wochen veröffentlichte ein islamfeindlicher US-Blog ein Interview mit Taleb A., in dem dieser dem deutschen Staat vorwarf, eine „verdeckte Geheimoperation“ zu betreiben, um saudische Ex-Muslime zu jagen und ihr Leben zu zerstören. All diese Aktivitäten reichten offenbar nicht aus, um die deutschen Sicherheitsbehörden zu alarmieren. Die radikalen Postings bei X veranlassten die Plattform, die Elon Musk gehört, offenbar auch nicht, das Konto zu sperren oder Beiträge zu löschen.
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