Berlin. Der Psychiater Taleb A. ist in Magdeburg mit einem Auto über den Weihnachtsmarkt gerast. Informationen über ihn werfen Fragen auf.

Es sind schreckliche Szenen, die sich am Freitagabend auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg abgespielt haben. Kurz nach 19 Uhr rast ein schwarzer BMW über den Alten Markt, der zu diesem Zeitpunkt voller Menschen ist. Der Mann steuert das Auto durch die Menge – mehrere Hundert Meter weit. Zahlreiche Menschen werden verletzt, mehrere getötet. Schnell sprechen die Behörden von einem Anschlag.

Nach der schrecklichen Tat steht die Frage nach dem Warum im Fokus. Um sie beantworten zu können, muss man sich mit dem Täter auseinandersetzen: Taleb A. Was könnte ihn dazu getrieben haben, in blinder Wut arglose Menschen zu töten? Was sind seine Motive? Was ist über ihn bekannt?

Anschlag in Magdeburg: Täter soll Arzt aus Saudi-Arabien sein

Die offiziellen Angaben über den Verdächtigen sind bislang überschaubar. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) bestätigte noch am Freitagabend folgende Informationen:

  • Der Täter ist ein 50 Jahre alter Mann aus Saudi-Arabien
  • Er soll 2006 nach Deutschland gekommen sein
  • Er habe als Arzt in der Stadt Bernburg südlich von Magdeburg gearbeitet
  • Er besitze eine dauerhafte Niederlassungserlaubnis
  • Bislang sei er den Behörden nicht als Extremist aufgefallen
Auto fährt in Menschenmenge auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Der Leihwagen, mit dem Taleb A. in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg gefahren sein soll, steht mit offenen Türen in der Nähe des Tatorts. © DPA Images | Hendrik Schmidt

Die Nachrichtendienste und der Staatsschutz der Polizei haben keine Informationen über ihn gespeichert. Allerdings gibt es Berichte darüber, dass Saudi-Arabien die deutschen Behörden vor dem Täter gewarnt haben sollen.

Denn unauffällig war Taleb A. in den vergangenen Jahren nicht. Er war als „Flüchtlingsaktivist“ vor allem in den sozialen Medien unterwegs. Sein vollständiger Name ist unserer Redaktion bekannt. Wir haben seit Freitag auf mehreren Webseiten recherchiert, auf denen Taleb A. aktiv war. Auch Informationen anderer Medien decken sich damit.

Von einer islamistischen Gesinnung, über die bereits kurz nach der Tat spekuliert worden war, ist darin nichts zu erkennen. Ganz im Gegenteil. A. lehnt den Islam ab; vor einigen Jahren rief er eine Online-Initiative ins Leben, die für eine „kreative Widerlegung“ des Islams wirbt. Der Täter sei „offensichtlich islamophob“, sagt auch Innenministerin Nancy Faeser. Als mögliches Motiv geben die Behörden bislang Unzufriedenheit mit dem Umgang von Flüchtlingen aus Saudi-Arabien in Deutschland an.

Raste Taleb A. in blinder Wut über den Weihnachtsmarkt von Magdeburg?

Taleb A. ist offenbar in der saudi-arabischen Stadt Hofuf geboren. Zehn Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland wurde er im Juli 2016 hier als Flüchtling anerkannt; nahe Magdeburg hat er als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie gearbeitet – laut „Welt“ im Maßregelvollzug Bernburg, eine Einrichtung des Landes Sachsen-Anhalt für suchtkranke Straftäter. Auch zwei wissenschaftliche medizinische Artikel sind offenbar von ihm erschienen, in denen es um Autismus und Depressionen geht.

Im Fachklinikum Bernburg ist das Entsetzen groß: „Es ist ein maximaler Schock“, sagte eine Kliniksprecherin unserer Redaktion. Auf die Frage, ob sich Taleb A. in den vergangenen Tagen und Wochen verändert habe, ob die Kollegen etwas an ihm bemerkt hätten, verneint sie: Taleb A. sei seit Ende Oktober nicht mehr im Dienst gewesen. Er habe Urlaub und freie Tage gehabt und offenbar zeitweise auch eine Krankschreibung. Nach der Todesfahrt am Freitagabend habe die Klinik eine psychologische Krisenbetreuung für diejenigen Kollegen eingerichtet, die Taleb A. zusammengearbeitet hatten. 

Privat war Taleb A. offenbar jahrelang als Aktivist aktiv. Insbesondere Frauen habe er über Fluchtmöglichkeiten aus seiner Heimat Saudi-Arabien beraten und eine Website mit Informationen zum deutschen Asylsystem betrieben. 2019 bezeichnete er sich in einem FAZ-Interview selbst als „aggressivsten Kritiker des Islams in der Geschichte“. Er sei Atheist und habe in Deutschland Aysl beantragt, weil er als Ungläubiger und Islamkritiker in seinem Heimatland Verfolgung befürchte. Ähnliche Berichte über ihn erschienen bei der britischen BBC und im „Spiegel“.

Täter von Magdeburg wohl kein Islamist

Auf einem X-Account, der offenbar von Taleb A. stammt, zeigte sich der Mann zuletzt immer wütender. Im Profiltext heißt es auf Englisch: „Deutschland jagt saudische Asylbewerberinnen innerhalb und außerhalb Deutschlands, um ihr Leben zu zerstören“. Und: „Deutschland will Europa islamisieren“. Das Titelbild zeigt ein Schnellfeuergewehr. In einem Post heißt es: „Deutschland muss seine Grenzen gegen illegale Migration schützen. Es hat sich gezeigt, dass die offene Grenzpolitik ein Plan von Merkel war, Europa zu islamisieren“.

In einem Posting von August 2023 kündigte Taleb A. nach Informationen unserer Redaktion offenbar an, „20 Deutsche“ töten zu wollen. Es gab daraufhin offenbar eine Anzeige einer Person, der diese Nachricht aufgefallen war. Sie warnte erst beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dann bei der Polizei vor der Gefährlichkeit von Taleb A. Bisher ist unklar, inwiefern die Behörden die Meldungen bearbeitet haben. Anfragen unserer Redaktion stehen noch aus.

Offenbar wandte sich Taleb A. aber auch selbst mit angeblichen Straftaten gegen saudische Frauen in Deutschland an die Polizei. Er veröffentlichte den Schriftverkehr mit den Beamten auf „X“. Seine E-Mail-Adresse sowie der Polizeidienststelle, die er kontaktiert, sind starke Indizien dafür, dass es sich bei dem „X“-Profil um den Täter handelt.

In einem erst vor acht Tagen auf einem islamfeindlichen US-Blog erschienenen Videointerview verbreitete Taleb A. seine kruden Thesen: Der deutsche Staat betreibe eine „verdeckte Geheimoperation“, um weltweit saudische Ex-Muslime zu „zu jagen und ihr Leben zu zerstören.“ Zugleich erhielten syrische Dschihadisten in der Bundesrepublik Asyl.

Taleb B. war der Justiz bekannt: Verfahren wegen Verleumdungen

Taleb B. hatte in den vergangenen Jahren offenbar immer wieder Konflikte mit dem Zentralrat der Ex-Muslime. Er habe den Zentralrat und die angeschlossene Säkulare Flüchtlingshilfe „seit Jahren terrorisiert“, erklärte die Vorsitzende der Organisation, Mina Ahadi. Der Mann habe die Ausrichtung des Zentralrats und der Flüchtlingshilfe kritisiert und einzelne Aktive öffentlich diffamiert. Diese hätten sich juristisch dagegen gewehrt und im August 2023 vor Gericht erstritten, dass der saudische Arzt die Verleumdungen unterlassen musste, hieß es weiter. Als sich in der Berufungsverhandlung Ende Oktober 2024 eine Niederlage für ihn abgezeichnet habe, habe er in einer Wutrede vor Gericht ausgeführt, dass er Europa vor der Islamisierung retten werde, wozu die deutschen Gerichte nicht in der Lage seien. Eine Mitarbeiterin der Säkularen Flüchtlingshilfe habe zudem bereits 2023 Strafanzeige gegen den Mann eingereicht wegen seiner Posts auf der Plattform X, in denen er unter anderem die deutsche Polizei als „Treiber des Islamismus in Deutschland“ bezeichnet habe.

Die Säkulare Flüchtlingshilfe setzt sich nach Worten von Ahadi gezielt für religionsfreie Migrantinnen und Migranten aus islamisch geprägten Ländern ein. „Längst nicht alle Menschen, die aus islamischen Ländern fliehen, sind Muslime. Wir sind als Organisation zwar explizit religionskritisch, aber wir kämpfen nicht gegen liberale Muslime, sondern für sie, da sie besonders oft zu Opfern des Islamismus werden.“ Darüber habe sich der saudische Arzt sehr aufgeregt, da er gemerkt habe, „dass er mit seinem Hass auf alles Muslimische bei uns nicht ankam“, berichtete die Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime. Nach ihrer Einschätzung hasse er nicht nur Muslime, „sondern alle, die seinen Hass nicht teilen“.

Magdeburg-Attentäter soll sich auch an Islamkritiker gewendet haben

Hilfesuchend soll sich Taleb A. an den Islamkritiker Hamad Abdel-Samad gewendet haben: „Im November schrieb mir der Attentäter von Magdeburg eine Nachricht auf X und forderte mich auf, meine Unterstützung für die säkulare Flüchtlingshilfe einzustellen“, teilte Abdel-Samad nach dem Anschlag auf der Plattform mit. Wie der „Spiegel“ berichtet, sei Abdel-Samad die Nachricht erst nach der Todesfahrt aufgefallen. Taleb A. habe sich als „Retter der saudischen Frauen“ verstanden, zitiert das Magazin.

Wegen einer anderen gerichtlichen Auseinandersetzung hätte Taleb A. sogar einen Tag vor dem Anschlag vor einem Berliner Gericht erscheinen sollen. Nach dpa-Informationen lag ein Verfahren der Amtsanwaltschaft Berlin wegen des Missbrauchs von Notrufen vor.

Auto fährt in Menschenmenge auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Das Standbild aus einem Video zeigt Polizisten bei der Festnahme des Tatverdächtigen am Weihnachtsmarkt in Magdeburg. © DPA Images | Privat

Stand der Täter Rechtsextremen in Deutschland nah?

Das Profil, das von Taleb A. zu stammen scheint, ihm aber nicht zweifelsfrei zugeordnet werden kann, zeigt eine gewisse Nähe zur islamfeindlichen AfD. Unter anderem wurden immer wieder Posts von Parteichefin Alice Weidel retweetet. Auch von einer geplanten Gründung einer Akademie für Ex-Muslime in Zusammenarbeit mit der AfD ist die Rede, die Pläne liegen allerdings Jahre zurück. Dazu heißt es: „Wer sonst bekämpft den Islam in Deutschland?“ Regelmäßig richtete das Profil auch Tweets an bekannte rechtsextreme Aktivisten, wie etwa den Kopf der „Identitären Bewegung“, Martin Sellner.

Die Recherche unserer Redaktion und anderer Medien lässt ein eindeutiges Motiv für die Tat nicht erkennen. Sowohl das vergleichsweise hohe Alter des Täters, 50 Jahre, als auch seine öffentlichen Äußerungen seit Jahren sprechen gegen islamistischen Terrorismus. Zugleich laufen die Ermittlungen noch, der mutmaßliche Täter wurde gefasst. Es ist unklar, ob er sich bisher zur Tat und zum Motiv geäußert hat.

Auch die Polizei macht zum Tatmotiv weiterhin keine Angaben. Das Geschehen könne „noch nicht abschließend klassifiziert“ werden, teilte die Polizei mit. „Wir kennen noch keine Hintergründe zur Tat, wir ziehen alles in Betracht“, sagte eine Sprecherin auf Nachfrage.