Magdeburg. Nach dem Anschlag mit mindestens fünf Toten und Hunderten Verletzten steht die Ottostadt unter Schock. Magdeburg ist dunkel und still.
Eine schwarze Kerze mit lodernder Flamme – die vorweihnachtliche Stimmung in Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt Magdeburg ist durch den verheerenden Anschlag auf den Weihnachtsmarkt jäh beendet worden. Auf der eigenen Internetseite haben die Betreiber des Marktes schnell gehandelt. „Wir sind in tiefer Trauer und mit unseren Herzen und Gedanken bei den Opfern, Angehörigen und Helfern“, ist nun dort zu lesen, wo zuvor über Öffnungszeiten und Glühweinangebot informiert wurde.
Für viele Magdeburger ist das Weihnachtsfest vorbei, bevor es richtig begonnen hat. Der Markt jedenfalls wird in diesem Jahr nicht wieder aufmachen. Der Ort des Anschlags, der Alte Markt mitten im Stadtzentrum, bleibt dunkel.
Mitunter ist ein Schluchzen zu hören, ansonsten ist die Trauer still
Magdeburg, die Elbstadt, die Ottostadt, ist seit Freitagabend auch die Stadt, die nun für immer in Verbindung stehen wird mit einer Amokfahrt über den Weihnachtsmarkt. Ein Anschlag, bei dem mindestens fünf Menschen, darunter auch ein Kind, starben und 200 teils schwer verletzt wurden. Drei Minuten benötigte der Täter am Freitagabend, um mit einem zuvor angemieteten BMW-Geländewagen, Trauer und Schmerz in die Stadt zu bringen.
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Viele Einwohnerinnen und Einwohner zeigen sich entsetzt über die Tat eines aus Saudi-Arabien stammenden Mannes, der seit 2006 in Deutschland lebt und am Klinikum in Bernburg als Psychiater gearbeitet hat. An der Johanniskirche gegenüber vom Tatort hat die Stadt einen Ort für die Trauer eingerichtet. Auch noch am Sonntagvormittag kommen immer wieder Menschen, um Blumen und Kerzen abzulegen. Mitunter ist ein Schluchzen zu hören, ansonsten ist die Trauer still. Notallseelsorger der Feuerwehr sind weiterhin für die Magdeburger vor Ort. Niemand soll mit seinen Gedanken allein sein müssen.
Noch immer bietet sich ein Bild der Verwüstung
Im Magdeburger Dom beginnt am Sonntagmorgen der Gottesdienst zum vierten Advent. An drei Stellen vor der Kirche haben Menschen Blumen, Kerzen und Kuscheltiere abgelegt. Es regnet. Viel reden mag man nicht. „Es ist nicht zu begreifen“, murmelt eine Frau, die sich mit ihrer Tochter unter einem schwarzen Regenschirm verkriecht. „Warum? Meine Gedanken sind bei euch. Ruhe in Frieden“, steht auf einem weißen Blatt Papier, das in einer Klarsichtfolie auf den Bodenplatten liegt. Ein Mann bückt sich, stellt eine Grabkerze ab, tritt wieder ein paar Schritte zurück und faltet die Hände.
Am Samstagmittag hatten bereits Bundes- und Landespolitiker Anteilnahme gezeigt. Unter anderem kamen Bundeskanzler Olaf Scholz, Innenministerin Nancy Faeser (beide SPD), Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) und Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz, um Blumen niederzulegen und mit Einsatzkräften zu sprechen. Als die Gruppe um Scholz und Haseloff in die Gassen des Weihnachtsmarkts einbiegen, bietet sich ihnen ein Bild der Verwüstung.
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Notfalldecken, Einweghandschuhe und zerbrochenes Holz liegen auf dem Boden
Silber-goldene Notfalldecken liegen noch auf dem Boden, ebenso Servietten und Einweghandschuhe. An der Stelle, wo der Täter abbog, liegt zerbrochenes Holz, womöglich von einem Stuhl oder einem kleinen Tisch. Auch Glühweintassen, die Menschen wohl vor Schreck haben fallen lassen, zeugen von den Minuten der Tat.
Der Magdeburg Bernd Kryk (62) sah genau, wie der Täter mit seinem schwarzen Fahrzeug auf das Areal des Weihnachtsmarktes fuhr. Genutzt hat er dafür eine Lücke zwischen Betonpollern im Bereich einer Fußgängerüberquerungen. An eine möglicherweise dort in der Notfallgasse stehenden mobilen Barriere – einem Polizeifahrzeug – fuhr er möglicherweise einfach vorbei. Schilderung von Augenzeugen zufolge soll dort zwar ein Wagen gestanden haben, aber so, dass die vielen Menschen, die zum Markt wollten, noch vorbeigehen konnten. Und wohl eben auch ein Fahrzeug vorbei passte. Kryk erzählt, er habe gesehen, wie der Täter zunächst noch langsam fuhr und dann plötzlich beschleunigte.
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Ein paar Meter neben Bernd Kryk und seiner Frau erfasste der Amok-Fahrer dann Menschen an einer Bude. „Da war ein Mann, der durch die Luft geschleudert wurde, dann auf dem Boden lag und stark am Kopf blutete“, erinnert er sich. Kryk leistete erste Hilfe. Ein Video einer Überwachungskamera, die auf dem Dach der Sparkassenfiliale am Alten Markt angebracht ist, zeigt wie der Täter mit seinem Fahrzeug ungebremst in weitere Menschen hineinfährt, sie mitreißt, tötet und verletzt. Erst als er wieder auf die Hauptstraße abbiegt und flüchten will, kann die Polizei ihn stellen und festnehmen. Was blieb, sei „ein grauenhaftes Bild“ gewesen, sagt Bernd Kryk.
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Den Menschen in Magdeburg fehlen die Worte
Man weiß nicht, wie lange Magdeburg brauchen wird, bis das Leben hier einigermaßen normal weitergehen kann. In der größten Einkaufspassage, dem Allee Center, gegenüber des Tatorts machten zum eigentlich stark frequentierten Samstags-Shopping nicht alle Geschäfte wie gewohnt auf. Ein paar Meter weiter die Straße herunter, steht Ellen Heinecke hinter einer Fensterscheibe. Ihr Blick scheint gedankenverloren. Auch die Mitarbeiterin eines Brautmodengeschäfts findet nicht viele Worte. Sie sei entsetzt und denke an die vielen Menschen, die der Täter aus dem Leben gerissen habe.
Tausende Magdeburger sind noch am Samstagabend zusammengekommen, um zu trauen. Auf dem Domplatz stehen sie, viele halten eine Kerze in der Hand. Die Übertragung des Gottesdienstes wird über eine große Leinwand gezeigt. Drinnen richtet die Oberbürgermeisterin der Stadt Worte an die Einwohner: „Ich wünsche uns allen, dass wir als Stadtgesellschaft uns davon nicht beeinträchtigen lassen“, sagt sie. Draußen auf dem Platz bleibt zunächst Stille und vielleicht das Versprechen, das in dieser Stadt das Licht niemals ganz ausgehen wird.