Witten. Das Assad-Regime ist gefallen und doch dominieren Angst und Verunsicherung unter den Syrern in Witten. Nur wenige trauen sich, offen zu sprechen.
- Assad ist gestürzt, in Syrien scheint ein Neuanfang möglich.
- Syrische Geflüchtete feiern in ganz Deutschland - auch in Witten.
- Doch die Angst vor dem syrischen Regime steckt noch in vielen Köpfen.
- Viele Syrer möchten nicht über den Umsturz im Heimatland sprechen.
- Nur wenige trauen sich in die Öffentlichkeit.
Russische Streitkräfte ziehen ab, Freiheitskämpfer rücken vor und das Assad-Regime geht unter: In Syrien überschlagen sich die Ereignisse. Kaum ein Tag vergeht ohne neue Nachrichten aus dem umkämpften Land. In vielen Großstädten wird gefeiert. Aber was denken die Syrer in Witten über das, was in ihrem Heimatland passiert? Insgesamt leben 2.010 Geflüchtete in der Stadt. Viele reagieren zurückhaltend, wollen oder können nicht über Politik sprechen. Den Schritt in die Öffentlichkeit wagen nur wenige.
„Ich bin Kurde und habe Angst“, sagt ein Mann mittleren Alters auf der Bahnhofstraße. Er möchte nicht erkannt werden, aber dennoch über das sprechen, was gerade in seiner Heimat passiert. Jahrelang wurde er in Syrien verfolgt. „Wenn ich die deutsche Polizei sehe, bekomme ich Angst“, erklärt er. Diesen Reflex hat er hierhin mitgebracht. In Syrien sei die Polizei zur Verfolgung von Minderheiten eingesetzt worden. „Ich weiß, dass die Polizei in Deutschland anders ist, aber die Angst bleibt.“
„Freiheit, freie Meinungsäußerung und dass das Land nicht geklaut wird“
Waseem Rihani (26) steht hinter der Theke seines Ladens an der unteren Bahnhofstraße, doch mit dem Kopf ist er woanders. Seine Gedanken kreisen um die jüngsten Entwicklungen in seinem Heimatland. Was ist passiert? Wie geht es weiter? Was kommt jetzt? Innerlich schwanke er zwischen Freue und Trauer. Freude darüber, dass das Assad-Regime nach mehr als 50 Jahren nun Geschichte ist. „Es hat endlich funktioniert“, sagt Waseem. Trauer empfindet er beim Blick auf lange Jahre des Kampfes und der Unterdrückung. „14 Jahre Revolution haben viele Menschenleben gekostet, auch Menschen aus meiner Familie sind gestorben“, sagt er.
Der 26-Jährige betreibt das Dekogeschäft „Chez Moi - Kristall“ - eines von insgesamt 170 Gewerben in der Stadt, die von Syrern geführt werden. Aufgebaut hat er den Laden beinahe im Alleingang. Denn seine Flucht aus Homs ins fremde Deutschland hat der damals 17-jährige Waseem ohne Freunde oder Verwandte angetreten. Nun, nach dem Sturz des Diktators Assad, sei auch seine Familie in der Heimat sicher vor Verfolgung, sagt er.
1400 Syrer mit befristetem Aufenthaltsrecht
Wie es für ihn weitergeht, in der neuen oder in der alten Heimat, kann Waseem noch nicht sagen. „Ich habe nur ein befristetes Aufenthaltsrecht“, erklärt er. Gerne würde er freiwillig entscheiden, wo seine Zukunft liegt, werde sich aber einer Entscheidung von außen fügen. Waseem zählt zu den 1400 Syrern in Witten, die nur ein befristetes Aufenthaltsrecht besitzen. Von einer neuen Regierung wünscht er sich vor allem „Freiheit, freie Meinungsäußerung und dass das Land nicht geklaut wird“.
Syrer in Witten: die Zahlen
„Der Sturz des Regimes ist eine ebenso überraschende wie gute Nachricht, insbesondere für die Menschen in Syrien, aber auch für alle Geflüchteten. Ich wünsche dem Land und den Menschen einen stabilen Frieden und eine frei gewählte Regierung. Wenn die Situation in Syrien stabilisiert ist und die Menschen sicher sind vor Verfolgung oder Repressionen, wird es in Berlin sicher die entsprechenden Entscheidungen geben, die auch für Witten handlungsweisend sein werden“, sagt Bürgermeister Lars König.
In Witten leben 1.114 Männer und 896 Frauen aus Syrien. Davon sind 701 minderjährig. Sie besitzen meist „ein humanitäres Aufenthaltsrecht in Form einer befristeten Aufenthaltserlaubnis“. Dieses Recht ergibt sich aus dem Schutzstatus, der vom Bamf, zuerkannt wurde. In Witten haben etwa 1400 Syrerinnen und Syrer ein befristetes Aufenthaltsrecht und 600 ein unbefristetes.
Seit 2015 wurden in Witten 632 Menschen aus Syrien eingebürgert - davon allein 284 im Jahr 2024 - ein Rekord. In städtischen Unterkünften sind aktuell 161 Geflüchtete aus Syrien untergebracht.
Politische Programme interessieren Ahmed Hasan (59), Metzger im benachbarten Gül Markt, nicht. „Hauptsache, es gibt freie und regelmäßige Wahlen“, so sein Fazit. Wer schlechte Politik macht, könne dann abgewählt werden. Er und seine Kollegen haben unter Assads Herrschaft gelitten. Einen Supermarkt hätten sie im Heimatland nicht führen können: „Wir sind Kurden. Ein Kurde darf in Syrien kein Geschäft betreiben“, sagt Hasan. Jetzt aber sei „der Albtraum“ vorbei, „jetzt kann man aufatmen“.
Syrer (65): Assad „schlimmer als Hitler“
Eigentlich wollte er sich nicht zur Situation im Heimatland äußern. Er spricht zwar gutes Deutsch, wie er betont - doch für so ein Gespräch brauche man „viele Vokabeln und politische Ausdrücke“. Doch für Assads Regime findet er deutliche Worte: „Schlimmer als Hitler“, sagt er - zögert kurz und wiederholt es ein zweites Mal. „50 Jahre war seine Familie an der Macht. Können Sie sich das vorstellen?“
Hasan lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern seit zehn Jahren in Herne. Drei Kinder sind schon eingebürgert, auch bei dem vierten wird es bald so weit sein, hofft der Vater. Er habe sich im Ruhgebiet eingelebt und integriert, habe deutsche Freunde und sich im Laden etwas aufgebaut, sagt er. „Ich sehe meine Zukunft in Deutschland.“
Student (28) hofft auf ein freies Syrien, in dem alle Menschen in Frieden leben können
„Mir geht es so gut wie noch nie in meinem Leben“, sagt der Wittener Medizinstudent Ibrahim Alothman. Die aktuellen Ereignisse in Syrien bestimmen seit Tagen sein Denken. In jeder freien Sekunde schaut der 28-Jährige auf sein Handy und informiert sich über das Geschehen.
Ibrahim wurde unter dem Regime von Assad geboren und wuchs in einem Umfeld von Unsicherheit und Angst auf. Die Offensive der Rebellen und der schnelle Sturz des Assad-Regimes innerhalb von nur zehn Tagen haben ihn ebenso überrascht wie viele andere Syrer.
Heute hofft Ibrahim auf die baldige Bildung einer Regierung, die ein freies Syrien erschafft, in dem alle Menschen unabhängig von ihrer Ethnie und Religion in Frieden leben können. Er wünscht sich, dass ausländische Mächte wie Russland, der Iran, die Türkei und die USA sich zukünftig aus den inneren Angelegenheiten Syriens heraushalten.
Heimatstadt bleibt unsicher: Rückkehr ist noch keine Option
Eine Rückkehr ist für Ibrahim derzeit noch keine Option, da die Situation, insbesondere in seiner Heimatstadt Rakka, weiterhin zu unsicher sei. Ohnehin: Seit 2023 besitzt Ibrahim die deutsche Staatsbürgerschaft und sieht Deutschland als seine Heimat.
Ibrahim floh im Jahr 2015 aus der damals vom IS besetzten Stadt Rakka und hat seitdem einen beeindruckenden Neuanfang in Deutschland geschafft. Der in Syrien zum Krankenpfleger ausgebildete junge Mann studiert Medizin an der Universität Witten/Herdecke und absolviert momentan ein Praktikum in der Chirurgie an einer Kölner Klinik.
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