Witten. Der Chef eines Rettungsdienstes flüchtete vor russischen Besatzern. Seither plagt ihn das schlechte Gewissen. Gern möchte er zurück.
Als Tetjana und Jurii Kropyva aus der Ukraine nach Deutschland flohen, hatten sie große Hoffnung auf eine baldige Rückkehr. Nun haben sie hier in Witten bereits den zweiten Jahreswechsel erlebt und die Aussichten, die Heimat bald wiederzusehen, verdüstern sich von Tag zu Tag.
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 war das Paar zunächst dort geblieben, wo es schon seit Jahren wohnte: in der Stadt Dniprorunde nahe der Metropole Saporischschja. An der Entscheidung hielten die beiden Ukrainer auch noch fest, nachdem Putins Truppen in das Gebiet einmarschierten.
Als Chef des Rettungs- und Feuerwehrdienstes für eine ganze Region sah Jurii seine Verantwortung für die Bevölkerung, zumal das größte Atomkraftwerk der Ukraine in seinem Zuständigkeitsbereich lag. Die dort eingesetzten russischen Arbeitskräfte, so sagt er, kennen sich viel zu wenig mit der Technik aus, der sachgemäße Umgang sei keineswegs gewährleistet.
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Russische Truppen setzen Bevölkerung unter Druck
Doch schon bald begannen die Besatzer, die Menschen immer mehr unter Druck zu setzen, grenzten deren Freiheiten ein, abends herrschten Ausgangssperren, erzählt Tetjana (44), die ebenfalls für den Rettungsdienst tätig war. Der Wendepunkt kam für Jurii, als ihn die russischen Militärs zwingen wollten, mit ihm zusammenzuarbeiten. Das lehnte der 46-Jährige rigoros ab. Sich den Truppen zu verweigern, hieß aber, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen.
Mit einer abenteuerlichen Fahrt, die über die Krim und durch halb Russland schließlich in den Westen führte, gelang dem Paar die Flucht. Doch Jurii plagt seither das schlechte Gewissen. So viele Freunde und Bekannte hat er zurückgelassen, auch seine Mutter. Immer wieder fragt sich der gelernte Techniker, ob er nicht doch besser hätte bleiben sollen. Andererseits weiß der Ukrainer aber auch, wie sehr sich die Lage für die Landsleute verschärft hat.
Die Besatzer zwingen sie, russische Pässe anzunehmen. Wer die Aufforderung missachtet, darf weder zum Arzt gehen noch Medikamente kaufen. Sich von einem in den anderen Ort zu bewegen, bleibt ihm ebenfalls versagt. Zudem haben Militärs die ukrainische Sprache aus den Schulen verbannt, ukrainische Schulbücher verboten. Schließlich belasten gestiegene Preise auf breiter Front das alltägliche Leben.
Im ständigen Kontakt mit Verwandten und Freunden
Über die Lage in der Heimat ist das Paar stets im Bilde, steht es doch mit Freunden und Bekannten über Handys und soziale Medien im ständigen Kontakt. Allerdings „sind wir sehr, sehr vorsichtig“, betonen beide. Denn man müsse davon ausgehen, dass russische Behörden Nachrichten mitlesen oder Gespräche abhören. „Daher enthalten Sätze oftmals verschlüsselte Botschaften, wie es im Alltag zugeht“, erklärt Jurii, „die wir dann zu deuten wissen.“
Angesichts der schwierigen Lage würde er gern seine noch in der Heimat lebende Mutter nach Witten holen. Doch sie würde die Fahrt aus gesundheitlichen Gründen kaum schaffen, ferner sind Ausreisen kaum noch möglich. Auch der Bruder, der ebenfalls in Witten wohnt, hat sich um die Mutter bemüht – ohne Erfolg.
Da ist das Paar zumindest froh, dass die eigenen Kinder es in die Ruhrstadt geschafft haben. Sohn Dmytro hatte zunächst das besetzte Gebiet verlassen, nachdem russischen Soldaten auf offener Straße Menschen in Angst und Schrecken versetzt hatten, und war in die Ukraine gegangen. Inzwischen ist der 25-Jährige aber ebenso wie Yevhenii (20) und Sofia (18), eine jüngere Verwandte, in der Ruhrstadt angekommen. Die jungen Leute wollen in absehbarer Zeit mit einem Studium beginnen.
Eine Rückkehr wird immer unwahrscheinlicher
Dabei sind alle in der Familie mit ihren Gedanken immer wieder in der Ukraine, verfolgen die Nachrichten der dortigen TV-Sender. Eine Rückkehr halten sie für immer unwahrscheinlicher. Vielmehr befürchten sie, dass der Krieg kein Ende nimmt.
Sorgen bereiten dem Familienvater Stimmen aus der Politik im Westen, die die Hilfe für die Ukraine infrage stellen oder kappen wollen. „Dazu darf es nicht kommen“, sagt er. So sehr sich der Familienvater auch zurücksehnt, fühlt er sich in Witten sehr wohl. „Die Menschen hier sind freundlich, hilfsbereit und nehmen sich immer wieder Zeit, um mir beispielsweise beim Einkauf etwas zu erklären oder bei Behördengängen weiterzuhelfen. Das ist keineswegs selbstverständlich.“