Witten. Eigentlich wäre Jürgen bald Rentner. Er wird 66 und könnte dann die Enten am Hammerteich in Witten füttern. Aber wie leben von 283 Euro Rente?
Es ist Samstagnachmittag, die Sonne scheint, vorm Eiswagen auf dem Hohenstein stehen Kinder und Eltern Schlange. Am Crêpes-Stand gegenüber verteilt Jürgen den flüssigen Teig auf der heißen Herdplatte. „Mit Zucker und Zimt bitte!“ Der grauhaarige Mann mit Bart trägt eine schwarze Schürze, die Mitarbeiterin neben ihm könnte gut und gern seine Tochter sein. Jürgen ist 65 Jahre alt und hat das Rentenalter eigentlich fast erreicht. Warum tut er sich das jetzt noch an, für einen Minijob am Wochenende Pfannkuchen zu backen, wenn andere in seinem Alter längst die Beine hochlegen?
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Nun, Jürgen war 20 Jahre lang selbstständig und hat nicht genug in die deutsche Rentenversicherung eingezahlt. „Nach meiner letzten Abrechnung komme ich auf erworbene Rentenansprüche von 283 Euro“, sagt der Wittener. Im Oktober wird er 66 und eigentlich würde dann sein Lebensabschnitt als Rentner beginnen. Aber da er weder von Grundsicherung noch Bürgergeld leben möchte, geschweige denn andauernd Verdienstbescheinigungen beibringen will, wird Jürgen einfach wie gewohnt weiterarbeiten. „24 bis 30 Stunden in Teilzeit.“
Jürgen jobbt auch noch in einem Wittener Kiosk
Jürgen hat mit seiner Tätigkeit kein Problem, „so lange ich noch fit bin“. Wenn er nicht gerade am Hohenstein, im Landschaftspark Duisburg-Nord oder auf Festivals im Crêpes-Wagen steht, den Löffel ins Nutellaglas taucht und unzählige Pfannkuchen produziert, verkauft er in einem Kiosk in der Innenstadt Bier, Bonbons und Zigaretten. Denn Jürgen hat zwei Jobs. Damit kommt er aber ganz gut über die Runden.
Mehr Rentner mit Minijob
8245 Menschen in Witten sind laut Arbeitsagentur „geringfügig beschäftigt“. Es handelt sich um Minijobber, die monatlich bis zu 520 Euro verdienen dürfen und somit unterhalb der Sozialversicherungspflicht liegen. Vor zehn Jahren waren es noch 8337, die Gesamtzahl ist also leicht gesunken. Anders verhält es sich bei den Rentnern..
Die Zahl der arbeitenden 65-Jährigen und darüber erhöhte sich im Laufe eines Jahrzehnts von rund 1000 auf 1250, also um ein Viertel. Damit stieg ihr Anteil unter den Minijobbern von zwölf auf 15 Prozent. „Es gibt tatsächlich auch noch 42 Rentner, die einen Haupt- und einen Nebenjob haben“, sagt Agentursprecher Ulrich Brauer. Vor zehn Jahren waren es nur 18.
„Ich habe eine Wohnung, kann gut essen und trinken, ein Bierchen ist auch ab und zu drin“, sagt der Mann, der so gar nicht mit seinem Schicksal hadert. Warum auch, sagt er. Er arbeite noch gern, „was soll ich die ganze Woche zuhause sitzen“. Er mag das Gespräch mit den Kunden. außerdem hielten ihn die jungen Kolleginnen und Kollegen auf dem Laufenden. Natürlich muss er heute kleinere Brötchen backen als früher, als ihm noch eine Spedition gehörte.
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Damals kannte er es auch, „das ganz normale deutsche Leben“, „ziemlich fette Karre, eine entsprechend große Wohnung“ und schöne Urlaube. Für Letztere müsste er heute lange sparen und die anderen „Statussymbole“ sind ihm nicht mehr wichtig. „Ich muss keinen SUV fahren“, sagt Jürgen, der zweimal verheiratet war, Kinder, Enkel und ein „gutes Umfeld“ hat. Er spielt in einer Band Schlagzeug und geht gern ins „Maschinchen Buntes“, die Kulturkneipe an der Ardeystraße. In der Innenstadt hat Jürgen eine kleine Wohnung.
Arbeiten will er, „bis ich umfalle“. Hätte er auf seinen Vater gehört, würde er in wenigen Monaten vielleicht als Beamter eine schöne Pension beziehen. „Wenn‘s nach ihm gegangen wäre, wäre ich Ingenieur geworden und dann zur Stadt gegangen.“ Dass er sich lieber selbstständig gemacht hat und viel Lehrgeld zahlen musste, Jürgen hat es trotzdem nicht bereut.
„Ich kenne viele Leute von früher, die heute in leitender Stellung sind, aber auch schon einen Herzinfarkt hatten und zwei Bypässe“, sagt der Wittener. Er sei froh, es anders gemacht zu haben. „Ich habe mir das selbst ausgesucht. Ich wollte immer mein eigener Chef sein, der die Dinge anders macht. Mal hatte ich wenig Geld, mal ganz viel. Ich war immer in der Lage, mich anzupassen.“
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Die eigene Spedition hat er in den Achtzigern mit zwei Kumpels gegründet. „Wir sind damals mit 72.500 DM gestartet“, erinnert sich Jürgen lachend. Er hatte Maschinenbau studiert und für den Abschluss „fehlten mir noch zwei Scheine“. Dann stieß er auf einen Zeitungsartikel, wie man sich mit einer Anschubfinanzierung der EU selbstständig machen kann. „Nach fünf, sechs Jahren lief es. Wir haben all unsere Netzwerke genutzt und hatten auch einen Vertrag mit der Bahn“, sagt Jürgen.
Dann kam 2008 die Weltwirtschaftskrise, die Firma ging den Bach runter und „als ehemals Selbstständiger biste sofort in Hartz IV“, sagt der Vater von zwei erwachsenen Kindern. „Dann ging das los mit den Bewerbungen.“ Jürgen jobbte als Taxifahrer, machte sich mit einem Foodtruck selbstständig, arbeitete beim Logistikkonzern Schenker im Lager, fuhr wieder Taxi, „und dann kam Corona“. Er wurde wieder arbeitslos und hatte viel Zeit, „mich mit mir selbst zu beschäftigen“. Diese Zeit ist zum Glück vorüber. Langeweile hat Jürgen längst nicht mehr.
Die Zigarettenpause ist vorbei und der 65-Jährige kehrt zu seiner Arbeit in den Crêpes-Wagen zurück. Jürgen kann zwar keine großen Sprünge machen. Aber er scheint mit nichts in seinem Leben zu hadern und wirkt zufrieden. Vielleicht wäre Enten füttern am Hammerteich ja gar nicht sein Ding.