Witten. Immer gearbeitet und trotzdem fürs Heim auf Sozialhilfe angewiesen? Eine Seniorin aus Witten kann diese Rechnung nicht verstehen.
Seit über drei Jahren lebt Maria Lübke in der Boecker-Stiftung in Witten. Längst weiß die 83-Jährige ihr Heim zu schätzen, in dem sich viele Menschen um die Seniorin kümmern. Doch mit einer Hilfe fremdelt die Wittenerin, nämlich dem Geld vom Staat. Warum ist sie zwischenzeitlich darauf angewiesen, obwohl sie doch ein ganz klassisches Leben jenseits der Armut führte?
Sozialhilfe: „Der Begriff hat nun mal einen Beigeschmack“, sagt Maria Lübke, die zum Bewohnerbeirat des Seniorenheimes gehört. Sie stamme aus einer Generation, in der es Menschen als Makel empfinden, staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Das sei ihrer Schwiegermutter so ergangen, ebenso ihrer Mutter, die einst im Übrigen auch in der Einrichtung an der Breite Straße lebten.
Ein Taschengeld von 170 Euro monatlich
Einrichtungsleiter Peter Stöppler kennt Sätze wie diese zur Genüge: „Die Menschen sind ihr Leben lang einem Beruf nachgegangen, haben verdient und sie hadern damit, wenn nun im Alter der Staat für sie zahlt.“ Diese Einstellung hänge aber oft mit den Lebensgeschichte dieser Generation zusammen.
Das kann man am Beispiel Maria Lübke nachvollziehen. Sie kam nach dem Krieg als Kind mit einem der Flüchtlingstrecks aus Oberschlesien in den Westen und landete schließlich in Witten. Als junge Frau arbeitete sie in der Stadtbibliothek, heiratete und „gab, wie das damals üblich war, meinen Beruf auf, als die Kinder kamen.“ Wie es wohl anders hätte gehen sollen, fragt sich die zweifache Mutter. Ihr Mann war als Berufskraftfahrer ständig auf Achse, unter der Woche eher selten zuhause.
Nach der Familienzeit gern in den Beruf zurückgekehrt
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„Auch heute kann ich sagen, dass ich damit zufrieden war.“ Die Familie war und ist ihr Ein und Alles. Später, die beiden Töchter gingen ihre Wege, kehrte sie ins Berufsleben zurück, auch um eigenes Geld verdienen. An den Job im Handel erinnert sie sich noch gern: „Der hat mir viel Spaß gemacht.“
Offenbar hatte sie eine kaufmännische Ader, schon früh überließ ihr der Ehemann alles Finanzielle. Rechnungen oder Kontoführung waren Angelegenheiten von Maria Lübke.
Nachdem das Paar viele Jahrzehnte zur Miete gewohnt hatte, zog es im Rentenalter um, in eine seniorengerechte Wohnung an der Breite Straße. Doch die gemeinsame Zeit fand ein jähes Ende, und Maria Lübke traf der Schicksalsschlag, als ihr Mann starb, mit dem sie 57 Jahre lang verheiratet war.
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Die folgenden Monate, die Corona-Pandemie bestimmte den Alltag und Besuche im Heim blieben zeitweise verboten, erscheinen ihr heute wie im Nebel. Gleichwohl stand die Frage an, wie es nun für sie, auf sich gestellt, finanziell weitergehen sollte. Für den Platz in ihrem Einzelzimmer zahlt sie einen Eigenanteil. Das Ersparte war dafür inzwischen bis auf das Schonvermögen aufgebraucht, also das Geld, das bei der Berechnung der Bedürftigkeit unangetastet bleibt. Heute liegt es laut den Angaben von Pflegeportalen im Internet bei 10.000 Euro, damals waren es noch 5000 Euro.
Sozialverband fordert Umbau der Pflegeversicherung
Der Sozialverband VdK fordert einen Umbau der Pflegeversicherung. Sie müsse eine Vollversicherung sein, Heimkosten dürften nicht auf die Bewohner zurückfallen.
Nach Erkenntnissen des Verbandes ist der Eigenanteil für Pflegebedürftige im Vergleich zum Vorjahr durchschnittlich um 350 Euro gestiegen.
Der EN-Kreis rechnet in diesem Jahr, allein für die Sozialhilfe, die Heimbewohner erhalten, mit rund 28 Millionen Euro.
Der Eigenanteil der Bewohner wiederum liegt, wie Einrichtungsleiter Peter Stöppler erklärt, zwischen 2000 und 3000 Euro pro Monat. Die exakte Summe hängt unter anderem davon ab, wie lange schon jemand in dem Haus lebt. Denn mit der Dauer des Aufenthaltes steigt auch das Pflegewohngeld, das die öffentliche Hand zahlt, um den Eigenanteil abzumildern. Wie jüngst ein Vergleich von Krankenkassen zeigte: Grundsätzlich wird der Eigenanteil in Heimen immer teurer.
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Seniorin bat die Tochter schweren Herzens um Hilfe
Bei einer solchen komplizierten Materie wandte sich Maria Lübke an ihre älteste Tochter – schweren Herzens. „Denn meinen Kindern möchte ich nicht zur Last fallen, vor allem nicht finanziell.“ Als sie mit Eva-Maria Kuntzig (59) alle Unterlagen durchging, zeigte sich zum einen, dass sie den ganzen Papierkram „bedauerlicherweise“ auf Dauer nicht allein bewältigen kann. Zum anderen bewahrheitete sich, was die Seniorin schon vermutet hatte: Ihre monatliche Rente wird nur bedingt ausreichen, um den Eigenanteil zu zahlen. Das vielschichtige Berechnungssystem führt nämlich dazu, dass es immer wieder Monate gibt, in denen auf Antrag das Sozialamt in die Bresche springen muss. Anfreunden kann und will sich die 83-Jährige damit aber nicht.
Peter Stöppler muss immer wieder Senioren erklären, dass sie durchaus einen Anspruch auf Hilfe vom Staat besitzen, da sie dafür auch hart gearbeitet haben. „Ohnehin übernimmt das Sozialamt häufig nur einen gewissen Satz des Eigenanteils, der dann je nach Bewohner von 50 Euro bis zu mehreren hundert Euro reicht“, sagt er. Ein großer Teil an Heimbewohnern in Deutschland sei mittlerweile auf Unterstützung angewiesen. Den Krankenkassen zufolge ist es etwa ein Drittel, Schätzungen gehen von zwei Dritteln aus. Stöppler kennt die Forderungen, das System umzukrempeln, damit Heimbewohner finanziell ungeschoren davonkommen.
Bei all den Berechnungen hat Maria Lübke stets Anspruch auf ein monatliches Taschengeld von 170 Euro. „Mit dem Betrag komme ich gut hin. Ich habe ja nur meine persönlichen Ausgaben.“ Das Haus versorge sie rund um die Uhr, biete jede Menge Programm und Kurzweil. Am liebsten ist es ihr, wenn sie den Betrag mit ihrem eigenen Einkommen bestreiten kann.
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