Mülheim. Häusliche Gewalt hinterlässt tiefe Spuren bei Kindern, oft ein Leben lang. Aber wie helfen – mit Fachkräften am Limit?

  • Selbst jüngste Kinder leiden nachweislich unter Gewalt in der Familie.
  • In Extremfällen sind gar irreversible Schädigungen des Gehirns möglich.
  • Viele Kinder und Jugendliche stecken auch später in einem Kreislauf von Gewalt.
  • Es gibt aber Wege aus der Gewaltspirale – Bernd Nierhaus etwa hat es geschafft.

„Du bist wie gefangen. Es lässt dich nicht mehr los, dein ganzes Leben nicht. Aber du kannst lernen, es besser zu machen.“ Bernd Nierhaus ist 64 Jahre alt, bekannt für sein soziales Engagement in der Ruhrstadt, und er spricht offen über das, was er als Kind durchgemacht hat: Gewalt und psychischen Terror. Die Täter: jene Menschen, die sich eigentlich um ihn hätten kümmern sollen.

Häusliche Gewalt bleibt in vielen Familien unsichtbar, hinterlässt aber immer tiefe Spuren. Kinder, die in einem Umfeld von Missbrauch und Gewalt aufwachsen, leiden oft lebenslang unter den Folgen. Und dass auch dann, wenn sich die Gewalt nicht unmittelbar gegen sie selbst richtet, sondern etwa gegen ein Elternteil. In der Mehrheit aller Fälle ist das die Mutter, die Frau. „Diese Kinder machen Negativ-Erfahrungen, die sich auch auf ihr späteres Leben auswirken, eine Spirale der Gewalt in Gang setzen können“, sagt die systemische Therapeutin Jana Herchenröder aus Heißen.

Mülheim Expertinnen: Wer Gewalt erlebt hat, steckt oft in einer Spirale fest

Praxis Jana Herchenröder
Cäcilia Tiemann, stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte in Mülheim, und die systemische Therapeutin Jana Herchenröder engagieren sich für das Thema Minderjährige und häusliche Gewalt. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Während Jungen häufig durch Aggressionen auffallen und diese dann oft auch als Erwachsene in eigenen Beziehungen nicht ablegen, ziehen sich Mädchen eher zurück – und laufen Gefahr, später selbst Opfer von häuslicher Gewalt, von Grenzverletzungen zu werden. Die Spirale beginnt, sich zu drehen.

Nierhaus wächst in ärmsten Verhältnissen auf – „mein Vater hat gesoffen, meine Mutter hat versucht, vier Kinder über die Runden zu bringen; wir hatten nichts zu essen, mussten klauen. Ich selbst habe keine physische Gewalt erlebt, aber seelischen Terror“.

Typische Reaktionen: Aggressionen und Verhaltensauffälligkeiten

Mit sechs Jahren kommt Nierhaus ins Heim. „Und da fing die Hölle richtig an.“ Schläge mit dem Rohrstock wegen Bettnässerei, kalte Duschen mit dem Schlauch, Einzelarrest auf dem dunklen Dachboden. „Das Schlimme ist: Man denkt, dass es nur einem selbst so geht, man fühlt sich vollkommen allein und hilflos.“

Später dann weiß Nierhaus nicht, wohin mit sich. „Ich war lange Zeit ein verhaltensauffälliger Jugendlicher, war aggressiv, habe geklaut, mich geprügelt. Ich habe überall angestoßen. Ich war schon sauer, weil ein anderer es an Weihnachten schön hatte und ich nicht. Und zugleich war da immer diese Sehnsucht, diese Suche nach Liebe.“

Systemsprenger oder Klassenclown: Manchmal steckt mehr dahinter

Rolli Rockers Familienfest
Bernd Nierhaus, Gründer des Mülheimer Vereins „Rolli Rockers Sprösslinge“, hat als Kind Gewalt erlebt und die Erfahrungen verarbeitet. Vergessen hat er sie nicht. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Die Art und Weise, wie ein Kind auf Gewalterfahrungen reagiert, lasse sich, so Herchenröder, nicht pauschalisieren. Da seien die Systemsprenger, die Klassenclowns, jene Kinder, die sich auffällig stark zurückziehen, oder jene, die sich geradezu „anbiedern“. Eine typische Reaktion gebe es nicht. „Und ebenso wenig darf man hier verallgemeinern oder gar voreilige Schlüsse ziehen. Nicht jeder Klassenclown hat Gewalt erlebt. Wir reden hier immer von können, nicht von müssen.“

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Dennoch sei es enorm wichtig, frühzeitig Präventionsarbeit zu leisten, „genauer hinzusehen“. Denn: „Als Kind Opfer von Gewalt in der Familie zu werden, hat immer Folgen. Gänzlich unbeschadet geht da niemand raus.“ Studien hätten belegt, dass selbst jüngste Kinder, „bei denen es oft heißt, sie hätten ja geschlafen und gar nicht mitgekriegt, wie die Mutter geschlagen wird“, einen erhöhten Stresshormonlevel haben. In besonders schweren Fällen, ergänzt die stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte der Stadt, Cäcilia Tiemann, komme es sogar zu irreversiblen Gehirnveränderungen, die sich im MRT nachweisen ließen.

Tagung in Mülheim zeigte: Selbst Fachkräfte haben noch viele Fragen

Im vergangenen November hat die Mülheimer Gleichstellungsstelle gemeinsam mit dem Runden Tisch gegen häusliche Gewalt eine Fachtagung speziell zum Thema Minderjährige und häusliche Gewalt ausgerichtet. Tiemann: „In Mülheim setzt man sich schon sehr gut mit dem Thema auseinander. In vielen Bereichen wird bereits versucht, Fachkräfte zu sensibilisieren. Die Tagung hat aber aufgezeigt, wie viele Fragen es selbst bei den Fachkräften noch gibt.“

Fachkräfte – das meint: Erzieherinnen und Erzieher, Lehrer, Mitarbeitende in Jugendzentren. Also jene, die ohnehin oft bereits an der Belastungsgrenze arbeiten. Das ist auch Herchenröder nur allzu bewusst. Und dennoch appelliert die Therapeutin: „Es ist wichtig, mit diesen Kindern gut in Kontakt zu sein und vielleicht bei Ausflügen, Klassenfahrten einfach mal das Gespräch zu suchen.“

Auch wenn sich Gewalt in der Familie nicht unmittelbar gegen das Kind richtet, bleiben Folgen, selbst bei den Jüngsten, sagen die beiden Mülheimer Expertinnen (Symbolbild).
Auch wenn sich Gewalt in der Familie nicht unmittelbar gegen das Kind richtet, bleiben Folgen, selbst bei den Jüngsten, sagen die beiden Mülheimer Expertinnen (Symbolbild). © picture alliance / dpa | Patrick Pleul

In Mülheim fehlen Ressourcen und Personal

Das Problem: „Das sind Kinder, die dringend korrigierende Erfahrungen, Nähe bräuchten. Aber gleichzeitig verhalten sie sich auf eine Weise, die genau das schwer macht.“ Das Ideal? „Wenn es Fachkräfte schaffen, trotz Kränkungen, trotz Aggressionen, trotz persönlicher Beleidigungen in den Austausch zu gehen, nicht mit Wegschicken zu reagieren, sondern zu sagen: Ich sehe deine Not hinter deinem Verhalten“, resümiert Herchenröder.

Die größte Herausforderung allerdings sind wie so oft die Ressourcen. Das Fazit der damaligen Fachtagung: „Es gibt viel zu wenig Unterstützung, Mittel und Fachkräfte, um betroffene Kinder und Jugendliche in den Institutionen angemessen zu unterstützen – und ihnen einen Ausweg aus der Gewalt aufzeigen zu können.“ Cäcilia Tiemann geht ins Detail: Kürzungen für die unmittelbare Frauen-Hilfestruktur in NRW, die zu lange Dauer familiengerichtlicher Verfahren, zu wenig Therapieplätze auch für Kassenpatienten.

Eine Therapie, sagt auch Bernd Nierhaus, habe ihm schließlich geholfen, irgendwann mit Anfang 20. „Das war meine Rettung, auch wenn ich mich zunächst gefragt habe, was ich da eigentlich soll. Aber dann habe ich beschlossen, dass ich anfange zu lieben und aufhöre zu hassen.“  

„Ich hatte eine schwere Kindheit.“ Dieser Satz, sagt die Mülheimer Therapeutin Jana Herchenröder, dürfe weder beim Opfer noch beim Täter lebenslange Entschuldigung sein (Symbolbild)
„Ich hatte eine schwere Kindheit.“ Dieser Satz, sagt die Mülheimer Therapeutin Jana Herchenröder, dürfe weder beim Opfer noch beim Täter lebenslange Entschuldigung sein (Symbolbild) © dpa | Karl-Josef Hildenbrand

„Ich hatte eine schwere Kindheit.“ Dieser Satz, schließt Jana Herchenröder, dürfe weder beim Opfer noch beim Täter lebenslange Entschuldigung sein. „An irgendeinem Punkt sollte man in der Lage sein, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, es anders zu machen.“ Und je früher man bei diesem Selbstheilungsprozess Unterstützung bekommt, desto besser. „Wenn es bei den Großeltern Gewalt gab, bei den Eltern und dann sitzt hier eine Frau und sagt: Nein, Schluss! Für mich und meine Kinder wird das jetzt endlich anders, dann ist das ein wichtiger Moment, dann ist die Spirale durchbrochen.“

Kidsinfo Häusliche Gewalt: www.kidsinfo-gewalt.de; Gewalt gegen Frauen: Tel. 116016, www.hilfetelefon.de; Gewalt an Männern: Tel. 0800 1239900, www.maennerhilfetelefon.de; Sexueller Missbrauch Tel. 0800 2255530, www.hilfe-portal-missbrauch.de

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