Mülheim. Norbert Kathagen war 33 Jahre im Einsatz für die Mülheimer Ginko Stiftung, leistete Präventionsarbeit. Wo er derzeit die größten Gefahren sieht.
Wenn er noch einen Wunsch freihätte zum Ende seiner Karriere, dann wäre es dieser: „dass die Gesellschaft mehr dafür tut, junge Menschen in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken, dass sie ihre Ängste und Sorgen ernster nimmt, ihnen mehr bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit hilft“. Ein entsprechendes Schulfach sei eine gute Idee, hieß es am Mittwoch beim Abschiedsgespräch von Norbert Kathagen, der Ende August nach 33 Jahren bei der Mülheimer Ginko Stiftung für Prävention in Ruhestand geht. Ein vertrautes Gesicht für ganze Schülergenerationen verschwindet damit. Die Nachfolger - Cathrin Ernst und Hasan Turhan - sind sich der großen Fußstapfen bewusst, ihren Tatendrang aber bremst das nicht aus.
Nach mehr als drei Jahrzehnten, in denen Norbert Kathagen mit unzähligen Mülheimer Jugendlichen und teils auch mit deren Eltern in der Beratungsstelle an der Kaiserstraße, aber auch an vielen anderen Stellen ins Gespräch gekommen ist, weiß der Sozialarbeiter und Erziehungswissenschaftler, welche Probleme junge Menschen umtreiben: „Essstörungen, Suizidgedanken, Panikattacken, Selbstwirksamkeitsprobleme“ zählt er beispielhaft auf, oft gepaart mit Fragen psychischer Gesundheit. Als Fachkraft für Suchtprävention verbinden ihn die Menschen darüber hinaus mit dem großen Thema Abhängigkeit. Bei den Substanzen, sagt der 65-Jährige, habe sich in all den Jahren kaum etwas verändert. „Eigentlich war alles schon mal da, oft nur mit anderem Titel.“ So habe man früher von „Designerdrogen“ geredet, spreche jetzt von „neuen psychoaktiven Substanzen“. Einzig Vaping und Handysucht seien gänzlich neue Phänomene.
Mülheimer Sucht-Experte kritisiert: „An Alkohol-, Tabak- und Medikamentensucht will keiner ran“
Kathagen hält die legalen Drogen für ein massives Problem, „eine Wahrheit, die niemand hören will“. An Alkohol-, Tabak- und Medikamentensucht wolle keiner ran, „weil fundamentale Interessen betroffen wären, von der Wirtschaft, Lobbyisten, Politikern“. Und weil es tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen bedeute: „Es gibt keine einzige Eröffnungsfeier einer Kirmes, in der der Bürgermeister nicht mit Bierglas abgelichtet wird - warum nimmt er nicht mal eine Currywurst?“ Dem Sucht-Profi geht es nicht um Gesellschaftskritik, „man muss nur wissen, dass diese Substanzen ungemein schädlich sind, viele Krankheiten hervorrufen“. Eine Studie der Uni Hamburg habe gezeigt, dass der Bund jährlich drei Milliarden Euro an Alkoholsteuer einnimmt, zugleich aber rund 57 Milliarden Euro ausgibt für die Folgen von durch Trinken ausgelöste Krankheiten, Berufsunfähigkeiten, Renten, Unfälle, Gewalttaten und ähnliches.
Dass etliche Menschen empört sind, wenn strengere Vorschriften in puncto Alkoholkonsum auch nur leise angedacht werden, kritisiert er: „Sie reden von Freiheit, die eingeschränkt wird, wissen aber gar nicht, was uns das alles kostet an Gesundheit und Geld.“ Erst kürzlich habe er im Getränkemarkt eine Flasche Wodka für billige 3,99 Euro entdeckt. Ein Unding: „Wir haben den Fahrradhelm akzeptiert und den Anschnallgurt - aber Tot-Saufen soll man sich weiterhin können.“ Auch bei der Tabak-Prävention sei Deutschland rückständig, im europaweite Vergleich weit hinten. Kathagen fordert höhere Steuern und komplette Werbe-Verbote. „Es muss schwieriger werden, an die Produkte zu kommen. Denn alles, was man einfach kriegt, wird von vielen Menschen als unproblematisch angesehen.“
Legalisierung von Cannabis ist „aus Präventionssicht schwierig, weil Kommerzialisierung droht“
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Bei den legalen Drogen herrsche weitgehend Stillstand, „Bewegung gab es zuletzt einzig und allein bei Cannabis“. Auch wenn die jüngst erfolgte Legalisierung für erwachsene Konsumenten „gut und nachvollziehbar“ sei - „aus Präventionssicht ist sie schwierig“, sagt Kathagen. Es stehe zu befürchten, dass sich Cannabis zu einer marktwirtschaftlichen Größe entwickelt, es bald viel mehr um kommerzielle, als um gesundheitliche Aspekte geht.
Den jungen Menschen, die ihm so am Herzen liegen, wünscht Kathagen, „dass die Gesellschaft ihnen die Möglichkeit gibt, sich mit den unzähligen Fragen, mit denen sie konfrontiert sind, ohne Angst beschäftigen zu können“. Das würde viel verändern, glaubt er, auch und gerade hinsichtlich des Konsums von legalen und illegalen Drogen. Neben den Schulen sieht er dabei die Eltern gefordert. „Sie müssen mit den Kindern in Kontakt bleiben, zuhören, was sie bewegt.“ Leider aber seien viele Väter und Mütter heute selbst überfordert, zum Beispiel im Umgang mit Handy, Computer und Co. Im Einsatz gegen übermäßigen Konsum elektronischer Medien rät der Profi auch dazu, den Kindern bewusst Alternativen für andere Beschäftigungen aufzuzeigen und diese auch selbst zu leben.
Jugendfreizeit in die Niederlande war „eine der coolsten Sachen, die ich je gemacht habe“
Spannende Jahrzehnte voll interessanter Begegnungen liegen hinter ihm. An einige Erlebnisse erinnert er sich besonders gern, so an eine Jugendfreizeit gemeinsam mit Kollegen vom Mülheimer Jugendamt: „Mit dem Kanu sind wir von Mülheim zum Ijsselmeer gepaddelt, waren dort dann segeln. Das war eine der coolsten Sachen, die ich je gemacht habe.“ Und auch für die Teenager ein Segen: „Sie hatten so viele Möglichkeiten, sich zu erleben, Stärken und Schwächen kennenzulernen. Das war Suchtprävention pur“, jubelt der scheidende Ginko-Mitarbeiter.
Stolz ist er auf manches, was die Fachstelle für Suchtvorbeugung etablieren konnte, so die „Feiern statt Reihern“-Zone beim Karnevalsumzug auf dem Rathausmarkt. Rauchen ist dort tabu, Alkohol trinken auch, die Familien können jenseits von Sucht jeck sein. „Als der Vorschlag aufkam, gab es großen Widerstand. Manche haben gleich gefragt, ‚soll jetzt etwa der ganze Zug trockengelegt werden?‘“ Mittlerweile aber sei die Zone akzeptiert - „das zeigt, dass man was schaffen kann, wenn man über Jahre dran bleibt“.
Scheidender Ginko-Mitarbeiter fordert mehr Geld für die Präventionsarbeit
Seinen Nachfolgern wünscht Kathagen eben diese Hartnäckigkeit, hofft zudem, dass sie in ihrer Arbeit auf Qualität setzen und auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Für all das benötige es einer guten Ausstattung: „Seit ich denken kann, sind wir aber leider defizitär finanziert.“ Dass von staatlicher Seite zu wenig Geld in die Hand genommen werde, man es nicht schaffe, präventiv zu denken und handeln, ist für ihn unverständlich: „Es kostet immer mehr Geld, Fehler nachträglich zu beheben. Es ist immer besser, Krankheiten nicht erst entstehen zu lassen, als sie hinterher aufwendig zu kurieren.“
Das sehen die neuen Fachkräfte für Suchtprävention, Cathrin Ernst und Hasan Turhan, genau so. Seit feststeht, dass sie Kathagens Nachfolge antreten, hören sie noch ein bisschen genauer hin, wenn er erzählt. „Er ist ein Vorbild und wirklich ein Begriff in dieser Stadt“, so Erziehungs- und Medienwissenschaftlerin Ernst. „Manchmal stelle ich mich deshalb noch als ,die neue Kathagen‘ vor“, sagt die 35-Jährige grinsend.
Nachfolger will herausfinden, „wie Sucht in der LGBTQ-Community aussieht“
Doch das Duo hat auch eigene Ideen. Erziehungswissenschaftler Turhan zum Beispiel, der zuvor unter anderem in der psychosozialen Beratung Zugewanderter gearbeitet hat, will zwar altbekannte Ginko-Projekte wie „Check it!“ fortführen, seinen Fokus aber auch auf Neues richten. Der 33-Jährige denkt an interkulturelle Arbeit, an Menschen mit Fluchterfahrung und Migrationshintergrund, er will Anti-Rassismus-Workshops etablieren und herausfinden, „wie Sucht in der LGBTQ-Community aussieht“.
Die Kollegin möchte unter anderem den Kontakt zu den Schulen intensivieren - „es gibt da welche, wo es noch besser ginge“ - und stärker an Kitas und Grundschulen herantreten, mit Personal und Eltern arbeiten und „schon den Jüngsten den Umgang mit großen und kleinen Gefühle“ beibringen. In dem Alter geht es noch nicht um spezielle Substanzen, höchstens um Mediensucht - doch wer frühzeitig stark gemacht wird, ist später besser geschützt vor Sucht-Gefahren.
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