Gladbeck. Von Luftschutzkellern und Kriegsspuren: Ein Blick in die bewegte Vergangenheit der Hochstraße 37. Erinnerungen an Gladbecker Bombennächte.

Auf den ersten Blick ist es ein ganz normaler Keller, hier im Haus an der Hochstraße 37 in Gladbeck. In unzähligen Regalen stapeln sich Kartons und Ladendekoration für das Juweliergeschäft Hahne im Erdgeschoss. Alles steht etwas höher, damit bei Hochwasser nichts nass werden kann. An den Wänden bröckelt hier und da etwas Putz ab. Rohre sind zu sehen, es gibt einen Heizungsraum. Es ist der zweite Blick, der dem Keller seine Geheimnisse entlockt. Ein langes, weißes Rohr führt einmal komplett durch den Keller hindurch. Und was hat es mit dem Raum hinter einer kleinen, unscheinbaren Tür zu tun?

Dorothee und Georg Hahne geben Einblick in die Geschichte ihres Familienhauses.
Dorothee und Georg Hahne geben Einblick in die Geschichte ihres Familienhauses. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Schnell wird klar: Dieses Haus mitten in der Gladbecker Innenstadt erzählt seine ganz eigenen Geschichten. 111 Jahre ist es bereits alt, 1913 wurde es nach den Plänen des Architekten Emil Fahrenkamp fertiggestellt. Auftraggeber war Anton Hahne, der bereits 1885 das Schmuckgeschäft Hahne in Gladbeck gründete. Inzwischen leitet Urenkel Georg Hahne den Familienbetrieb in der vierten Generation. Das Gebäude ist somit weiterhin in Familienbesitz. Der 54-Jährige ist sich dessen langer Geschichte bewusst. „Das Haus hat sich mit der Zeit stetig verändert“, so Georg Hahne. Trotzdem habe es immer seinen eigenen Charakter beibehalten.

111 Jahre: Blicke in eines der ältesten Wohnhäuser Gladbecks

Das Gebäude an der Hochstraße 37 feiert in diesem Jahr seinen 111. Geburtstag. Das Haus ist im Besitz der Familie Hahne, die im Erdgeschoss auch ein Juweliergeschäft in vierter Generation führen.
Das Gebäude an der Hochstraße 37 feiert in diesem Jahr seinen 111. Geburtstag. Das Haus ist im Besitz der Familie Hahne, die im Erdgeschoss auch ein Juweliergeschäft in vierter Generation führen. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde
Das Gebäude kurz nach der Fertigstellung 1913. Damals fuhren noch Straßenbahnen durch die heutige Fußgängerzone.
Das Gebäude kurz nach der Fertigstellung 1913. Damals fuhren noch Straßenbahnen durch die heutige Fußgängerzone. © Familie Hahne | Familie Hahne
Ein Blick die Hochstraße hinauf, ca. 1920. Rechts das Haus von Familie Hahne.
Ein Blick die Hochstraße hinauf, ca. 1920. Rechts das Haus von Familie Hahne. © Familie Hahne | Familie Hahne
Das Ladengeschäft in den 1920/30er Jahren.
Das Ladengeschäft in den 1920/30er Jahren. © Familie Hahne | Familie Hahne
Im April 1945, also unmittelbar vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, schlägt eine Fliegerbombe in das Haus ein. Die Familie überlebt dank eines Luftschutzbunkers im Keller. Der vordere Teil des Gebäudes ist fast völlig zerstört.
Im April 1945, also unmittelbar vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, schlägt eine Fliegerbombe in das Haus ein. Die Familie überlebt dank eines Luftschutzbunkers im Keller. Der vordere Teil des Gebäudes ist fast völlig zerstört. © Familie Hahne | Familie Hahne
Unmittelbar nach Ende des Krieges beginnt der Wiederaufbau, hier ca. 1946/1947.
Unmittelbar nach Ende des Krieges beginnt der Wiederaufbau, hier ca. 1946/1947. © Familie Hahne | Familie Hahne
Schon 1948/1949 ist der Wiederaufbau des Gebäudes weit fortgeschritten.
Schon 1948/1949 ist der Wiederaufbau des Gebäudes weit fortgeschritten. © Familie Hahne | Familie Hahne
In der Nachkriegszeit waren Arkaden ein übliches architektonisches Stilmittel, auch in Gladbeck. Der Stil setzte sich allerdings nie ganz durch und ist heute fast völlig aus der Innenstadt verschwunden. Das Foto zeigt das Gebäude in den 1970er Jahren.
In der Nachkriegszeit waren Arkaden ein übliches architektonisches Stilmittel, auch in Gladbeck. Der Stil setzte sich allerdings nie ganz durch und ist heute fast völlig aus der Innenstadt verschwunden. Das Foto zeigt das Gebäude in den 1970er Jahren. © Familie Hahne | Familie Hahne
Die Geländer an den zur Schillerstraße anliegenden Fenstern sind Originale vom ersten Gebäude. Die Buchstaben „A H“ an mittigen Gelände stehen für Anton Hahne, dem früheren Besitzer des Hauses und Gründer des Ladengeschäfts Hahne.
Die Geländer an den zur Schillerstraße anliegenden Fenstern sind Originale vom ersten Gebäude. Die Buchstaben „A H“ an mittigen Gelände stehen für Anton Hahne, dem früheren Besitzer des Hauses und Gründer des Ladengeschäfts Hahne. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde
Ein Blick ins Treppenhaus. Die Treppe und das Geländer überstanden den Zweiten Weltkrieg weitestgehend unbeschadet.
Ein Blick ins Treppenhaus. Die Treppe und das Geländer überstanden den Zweiten Weltkrieg weitestgehend unbeschadet. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde
Darauf ist Familie Hahne besonders stolz: Die hauseigene Rohrpost verbindet die Werkstatt im hinteren Bereich des Gebäudes mit dem Laden vorne.
Darauf ist Familie Hahne besonders stolz: Die hauseigene Rohrpost verbindet die Werkstatt im hinteren Bereich des Gebäudes mit dem Laden vorne. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde
Ladenbesitzer Georg Hahne zwängt sich durch den Keller an der Rohrpost vorbei. Weiter vorne zur Hochstraße verringert sich die Höhe des Kellers noch weiter, da aufgrund der ehemaligen Arkaden hier die Decke noch weiter abgestützt werden musste.
Ladenbesitzer Georg Hahne zwängt sich durch den Keller an der Rohrpost vorbei. Weiter vorne zur Hochstraße verringert sich die Höhe des Kellers noch weiter, da aufgrund der ehemaligen Arkaden hier die Decke noch weiter abgestützt werden musste. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde
Dorothee Hahne öffnet vorsichtig die Tür zum ehemaligen Luftschutzbunker. Die frühere Bunkertür war deutlich dicker, sie wurde aber mittlerweile ausgetauscht.
Dorothee Hahne öffnet vorsichtig die Tür zum ehemaligen Luftschutzbunker. Die frühere Bunkertür war deutlich dicker, sie wurde aber mittlerweile ausgetauscht. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde
Neffe und Tante blicken in den alten Bunker. Dorothee Hahne überlebte hier einen Einschlag einer Fliegerbombe im Zweiten Weltkrieg.
Neffe und Tante blicken in den alten Bunker. Dorothee Hahne überlebte hier einen Einschlag einer Fliegerbombe im Zweiten Weltkrieg. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde
Mindestens zwölf Menschen harrten hier während der Fliegerangriffe aus.
Mindestens zwölf Menschen harrten hier während der Fliegerangriffe aus. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde
Ein altes Luftventil im Bunker.
Ein altes Luftventil im Bunker. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde
Ein Plakat aus Blech informiert über das richtige Verhalten während der Fliegerangriffe.
Ein Plakat aus Blech informiert über das richtige Verhalten während der Fliegerangriffe. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde
Draußen an der Fassade weisen Spuren auf den Artillerie-Beschuss nach den Fliegerangriffen hin. Vor der Einnahme der Alliierten wurde Gladbeck aus Richtung Dorsten beschossen.
Draußen an der Fassade weisen Spuren auf den Artillerie-Beschuss nach den Fliegerangriffen hin. Vor der Einnahme der Alliierten wurde Gladbeck aus Richtung Dorsten beschossen. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde
Draußen an der Fassade weisen Spuren auf den Artillerie-Beschuss nach den Fliegerangriffen hin. Vor der Einnahme der Alliierten wurde Gladbeck aus Richtung Dorsten beschossen.
Draußen an der Fassade weisen Spuren auf den Artillerie-Beschuss nach den Fliegerangriffen hin. Vor der Einnahme der Alliierten wurde Gladbeck aus Richtung Dorsten beschossen. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde
Dorothee Hahne ist Augenoptikmeisterin und führte zusammen mit ihrer Schwester über mehrere Jahrzehnte den Gladbecker Familienbetrieb, den einst ihr Großvater gründete.
Dorothee Hahne ist Augenoptikmeisterin und führte zusammen mit ihrer Schwester über mehrere Jahrzehnte den Gladbecker Familienbetrieb, den einst ihr Großvater gründete. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde
Dorothees Neffe Georg Hahne ist gelernter Handelsfachwirt und übernahm zusammen mit seiner Frau Anfang der 2000er-Jahre den Betrieb.
Dorothees Neffe Georg Hahne ist gelernter Handelsfachwirt und übernahm zusammen mit seiner Frau Anfang der 2000er-Jahre den Betrieb. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde
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Gebäude prägt Gladbecker Innenstadt seit über einem Jahrhundert

Der Ladeninhaber hat alte Fotos herausgesucht, die das Gebäude zu verschiedenen Zeitpunkten zeigt. „An den Bildern wird auch deutlich, wie stark sich Gladbeck im Laufe des letzten Jahrhunderts verändert hat“, sagt Georg Hahne. Frühe Fotos zeigen das Gebäude umringt von Straßenbahnschienen und Pflastersteinen. Kaum etwas erinnert an die heutige Innenstadt mit ihrer Fußgängerzone. Das Haus aber ist geblieben. „Man kann schon sagen, dass dieses Gebäude besonders stadtbildprägend war und noch immer ist“, behauptet Georg Hahne.

Das Haus der Familie Hahne kurz nach der Eröffnung in den 1910er-Jahren. Damals fuhren noch Straßenbahnen durch die Gladbecker Innenstadt.
Das Haus der Familie Hahne kurz nach der Eröffnung in den 1910er-Jahren. Damals fuhren noch Straßenbahnen durch die Gladbecker Innenstadt. © Familie Hahne | Familie Hahne

Charakteristisch für das Gebäude ist seine abgerundete Fassade an der Ecke zum heutigen Europaplatz. Anton Hahne hatte sich an dieser Ecke zur Eröffnung seines Schmuckgeschäfts eine ebenso abgerundete Glasscheibe einbauen lassen. Doch von Dauer war das nicht: „Ein Mann mit einem Motorrad fuhr nur kurz danach in die Glasscheibe hinein“, erzählt Georg Hahne und lacht. Eine neue Glasscheibe sei dann leider zu teuer gewesen. Die runde Fassade aber blieb, abgestützt von einem gebogenen Stahlträger, damals ein bauliches Meisterwerk.

Der Schriftzug an der Fassade, der auf das Baujahr des Hauses verwies, ist dagegen nicht mehr erhalten. Grund dafür sei der Zweite Weltkrieg gewesen, erzählt Dorothee Hahne. Sie ist die Tante von Georg Hahne und führte zusammen mit ihrer Schwester lange Jahre das Familiengeschäft. Dorothee Hahne erlebte als 1937er-Jahrgang die Bombennächte über Gladbeck mit. Sie löst das Geheimnis hinter der kleinen Tür im Keller des Hauses auf. Hier befindet sich ein Luftschutzkeller, den die Familie zwischen den beiden Weltkriegen einbauen ließ. Kaum größer als 10 Quadratmeter, bot dieser Raum der Familie Schutz vor den Fliegerbomben.

In diesem Raum überlebte die Familie Hahne den schweren Bombentreffer im April 1945.
In diesem Raum überlebte die Familie Hahne den schweren Bombentreffer im April 1945. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

„Mindestens zu zwölft harrten wir hier bei Fliegeralarm aus“, berichtet Dorothee Hahne. Häufig hätten auch Nachbarn oder Verwandte hier Zuflucht gefunden. Ein kleiner Schacht führte von hier in den Keller des Hauses nebenan und diente als Notausgang. In diesem Raum hatte sich Dorothee Hahne mit ihrer Familie aufgehalten, als Ende April 1945 eine Fliegerbombe in den vorderen Bereich des Gebäudes einschlug. „Der Druck war wahnsinnig hoch und schleuderte uns von Wand zu Wand“, erzählt die staatlich geprüfte Augenoptikermeisterin. Aber der Bunker hielt Stand, wundersamerweise überlebten alle Anwesenden den Einschlag. „Wenn ich in diesem Raum stehe und mir dessen Geschichte bewusst mache, werde ich schon demütig“, meint Georg Hahne. Seine Mutter, damals noch im Frühkindesalter, war in besagter Nacht ebenso hier. Heute steht der Luftschutzraum fast leer, einige Ventile und sonstige Überbleibsel erinnern aber noch an seine lebensrettende Vergangenheit.

Spuren des Krieges sind bis heute sichtbar

Der vordere Teil des Gebäudes war nach der Bombenexplosion fast vollständig zerstört. „Man konnte einmal durch das Haus auf die Lambertikirche durchschauen“, sagt Dorothee Hahne. Da der hintere Teil des Hauses aber noch stand, entschied sich die Familie für den Wiederaufbau anstelle des kompletten Abrisses. Bereits wenige Jahre später konnte auch das Geschäft im Erdgeschoss wieder öffnen. Noch heute ist erkennbar, welche Teile des Gebäudes ursprünglich sind und welche nach dem Krieg wieder rekonstruiert wurden. Die Säulen an der Fassade Richtung Europaplatz weisen etwa eine glatte Oberfläche auf, während die zum hinteren Teil oder an der Hochstraße 35 geriffelt sind.

Die Geländer der Fenster, die auf die Schillerstraße blicken, sind dagegen erhalten geblieben. Die Initialen ‚A‘ und ‚H‘ erinnern hier noch immer an den ersten Hausbesitzer Anton Hahne. An der Rückseite des Gebäudes sind zudem Spuren des Artillerie-Beschusses zu sehen, der nach der verheerenden Bombennacht aus Richtung Dorsten folgte. Die Einschläge wurden schlicht verputzt und sind daher noch immer sichtbar. Vom hinteren Blickwinkel wird zudem die besondere Form des Gebäudes ersichtlich. Es ist L-förmig und erstreckt sich noch ein gutes Stück hinten raus. Die Wohnungen der Hausnummer 35 an der Hochstraße wurde in die Fassade des Gebäudes integriert.

In der Nachkriegszeit erhielt das Gebäude eine Arkade

Doch nicht nur der Krieg hinterließ Spuren am Gebäude. Auch neue Architekturtrends machten vor der Hochstraße 37 nicht Halt. Besonders prägend waren die Arkaden, die in der Nachkriegszeit in der Innenstadt zunehmend ausgebaut wurden. Auch das Gebäude der Familie Hahne wurde dementsprechend umgebaut. Eine dicke Betonschicht im vorderen Teil des Kellers erinnert noch immer an diese Zeit. Der Beton sollte die Kellerdecke aufgrund der zusätzlichen Belastung abstützen. „Anfang der 1980er-Jahre erhielten wir die Genehmigung, die Arkade wieder zurückzubauen. Die Fläche konnten wir dann wieder ins Ladengeschäft integrieren“, so Dorothee Hahne, die damals mit Georgs Mutter die Strippen zog.

Seit 2003, nun schon unter der Leitung von Georg Hahne und seiner Frau, steht das Gebäude in seiner heutigen Form mit einem Ladeneingang an der Ecke zum Europaplatz. Abgeschlossen werde die Entwicklung des Hauses damit aber nicht sein, wie Georg Hahne vermutet. „Mal sehen, wie das Gebäude in 15 Jahren aussehen wird“, sagt er und schmunzelt. Der Entwicklung förderlich war und ist dabei, dass das Haus nicht denkmalgeschützt sei.

Rohrpost verbindet Ladenraum mit Werkstatt

Früher bewohnte die Familie selbst das Haus, heute sind alle Wohnungen vermietet. „Ich erinnere mich aber noch, wie die Straßenbahnen quietschend hier vorbeifuhren, als ich ein Kind war“, erzählt Georg Hahne. Die lauten Geräusche haben ihn das eine oder andere Mal vom Schlafen abgehalten. Auch seine Tante hat eine Anekdote an die Zeit, als durch Gladbeck noch Straßenbahnen kurvten. „Die Schienen führten so nah am Haus vorbei, dass wir unsere Markisen vor dem Haus nicht ausfahren konnten“, erzählt Dorothee Hahne und lacht.

Der heutige Zustand des Gebäudes. Von der früheren Arkade ist nichts mehr zu sehen.
Der heutige Zustand des Gebäudes. Von der früheren Arkade ist nichts mehr zu sehen. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Bleibt nur noch die Frage nach dem langen, zunächst unscheinbar wirkenden Rohr im Keller. „Das ist unsere Rohrpost“, sagt Georg Hahne und klopft stolz an die Leitung, die das Ladengeschäft vorn mit der Werkstatt verbindet. Eingebaut wurde die Rohrpost Ende der 1980er-Jahre. „Und wir hoffen, dass sie noch lange hält“, so der gelernte Handelsfachwirt. Durch die Rohrpost rutschen täglich Uhren oder Nachrichten durch, direkt am alten Luftschutzraum vorbei, durch den Keller mit den vielen Regalen und Kartons. Eine ganz eigene Besonderheit, in einen Haus voller weitere besonderer Geschichten.

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