Bottrop-Kirchhellen. Im Februar 2015 wurde eine Bottroperin in Feldhausen Opfer eines Mordes. Als Täter wurde ihr Mann verurteilt. Im Anschluss tötete er sich selbst.

Auch zehn Jahre nach der Tat bleiben zum Mord auf dem Bauernhof in Feldhausen Fragen offen und Rätsel ungelöst. Andrea S. (35) wurde am 18. Februar 2015 im Schlaf erschossen. Ihr Mann Thomas wurde wenige Monate später in einem Indizienprozess wegen des Mordes an seiner Frau zu lebenslanger Haft verurteilt, obwohl er bis zuletzt seine Unschuld beteuert hatte. Am Tag nach dem Urteilsspruch nahm er sich in der Haft das Leben. Ein Rückblick.

Diese Bluttat löst in Kirchhellen Entsetzen aus. Denn die Familie - und ihre Probleme - sind bestens bekannt im Dorf. Am Mittag des 18. Februar 2015 wird im Wohnhaus eines Schweinemastbetriebes in Feldhausen Andrea S. (35) tot auf der Couch gefunden. Sie hat sich morgens beim Arbeitgeber krankgemeldet. Vermutlich gegen 10.15 Uhr wird sie mit einem Kopfschuss hinterrücks getötet, ergeben später die Obduktion in der Rechtsmedizin und die Rekonstruktion des Tatablaufes. Das Zimmer ist zerwühlt, Schubladen sind geöffnet, Glas ist zerschlagen. Ein Einbruch? Oder der Versuch, eine falsche Fährte zu legen?

Die Ermittler der Mordkommission sind schnell sicher, den Täter gefunden zu haben: Ehemann Thomas, damals 39. Die Ehe des Paares gilt als zerrüttet, Streitigkeiten zwischen den Eheleuten haben schon Polizeieinsätze und eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt ausgelöst. Und das Dorf munkelt: Thomas S. hat eine andere, eine jüngere Geliebte.

Zudem ist Thomas S. an diesem Morgen von seinem Arbeitsplatz in Gladbeck noch einmal nach Feldhausen gefahren. Er habe sich mit seiner Frau aussprechen wollen, sagt er den Beamten. Und: Als er weggefahren sei, habe sie noch gelebt. Diese Aussage wird er im Prozess ändern.

Großangelegte Suche in Kirchhellen: Wo ist die Tatwaffe geblieben?

Denn diese Version nehmen ihm die Ermittler schon am Tattag nicht ab. Noch am selben Abend nehmen sie den Ehemann fest, am nächsten Tag schickt ihn ein Richter in Untersuchungshaft. In Feldhausen beginnt wenig später die Suche nach der Tatwaffe. Denn die Pistole, aus der das tödliche Neun-Millimeter-Projektil abgefeuert wurde, sie ist nicht aufzufinden.

Sie wird auch nicht entdeckt, als die Fahnder zwei Wochen später mithilfe der Einsatzhundertschaft, der Berufsfeuerwehren Bottrop und Bochum und der Ortswehr Kirchhellen das weitläufige Gelände des Hofes auf links drehen und auch auf den umliegenden Weiden in der Repeler Heide im Wortsinn jeden Stein umwenden. Sogar der zähe Schlamm auf dem Grund des Gülletanks wird durchsucht. Erfolglos.

Beamte der Einsatzhundertschaft durchkämmten tagelang Felder in Feldhausen. Die Tatwaffe fanden sie nicht.
Beamte der Einsatzhundertschaft durchkämmten tagelang Felder in Feldhausen. Die Tatwaffe fanden sie nicht. © Heiko Kempken / FUNKE Foto Services | Heiko Kempken

Ohne die Tatwaffe beginnt vor dem Essener Schwurgericht ein halbes Jahr später ein spektakulärer Indizienprozess. Hat Thomas S. eine Waffe besessen und auf seinem Hof damit geschossen? Wir haben nur Gerüchte gehört, müssen Zeugen vor Gericht einräumen. Andererseits: Die Polizei hat auf dem Hof zwar keine Waffe, aber weitere Geschosshülsen gefunden.

Hat Thomas S. eine Geliebte gehabt? Und hat sich seine Frau auch deshalb von ihm trennen wollen? Das sei sein Mordmotiv, wirft Oberstaatsanwältin Birgit Jürgens dem Angeklagten vor. Ja, es gab eine Geliebte, haben die Ermittlungen ergeben. Bei der Vernehmung durch die Polizei hat die Frau ausgesagt: Im Herbst habe sie schon einmal kurz vor der Trennung von ihrem Mann gestanden und eine eigene Wohnung angemietet. Thomas S. habe dann aber doch seiner Ehe eine Chance geben wollen.

„Ich bin fest davon überzeugt, dass er nicht der Täter ist“

Die Frau aus Dorsten verweigert im Prozess zunächst die Aussage vor dem Schwurgericht. Dann sagt sie doch noch aus und relativiert ihre Aussagen bei der Polizei. Die sexuelle Beziehung zu Thomas S. sei schon im November 2014 durch eine „schöne Freundschaft“ abgelöst worden. Sie sei im Übrigen „fest davon überzeugt, dass er nicht der Täter ist“.

Hat Andrea S. noch gelebt, als ihr Mann den Hof verlassen hat? Eher nein, sagen die Wissenschaftler im Landeskriminalamt (LKA). Sie haben an Thomas S.‘ Kleidung Schmauchspuren gefunden, die zum tödlichen Projektil passen. Das heißt: Als er am Tatort ist, ist der tödliche Schuss offensichtlich schon gefallen.

War ein Einbrecher der Mörder? Das sagen die Zeugen

Ist das auch der Beweis, dass Thomas S. den tödlichen Schuss abgefeuert hat? Wieder nein, sagt ein Gutachter des LKA im Prozess. Inzwischen hat Thomas S. seine erste Aussage geändert: Er habe seine Frau tot auf der Couch gefunden und ihren Puls gefühlt, um zu schauen, ob ihr noch zu helfen sei. Nicht auszuschließen sei, dass er die Rückstände des Schießpulvers auf die Kleidung bekommen habe, als er die Leiche berührte, sagt der Experte.

Bei diesem Detail kippen viele Sympathien in Kirchhellen

Aber warum hat Thomas S. nicht die Polizei gerufen, nachdem er seine Frau tot aufgefunden hat? Das versteht der Vorsitzende Richter Andreas Labentz nicht. Er habe Angst gehabt, für den Täter gehalten zu werden, sagt Thomas S.. Deshalb fährt er zur Werkstatt nach Gladbeck zurück - und bricht dort weinend zusammen, als die Polizei die Todesnachricht überbringt. Als dieses Detail im Prozess öffentlich wird, kippen viele Sympathien in Kirchhellen.

Gab es den Einbrecher, den Thomas S. als Täter ins Spiel bringt? Es gibt Hinweise, aber keine Beweise. Müllmänner hatten am Morgen des Tattages ein mit zwei Personen besetztes Auto mit polnischem oder russischem Kennzeichen gesehen. Ein Nachbar will ein Schussgeräusch gehört haben zu einem Zeitpunkt, als Thomas S . nachweislich noch nicht am Tatort gewesen sein kann.

Die Polizei suchte mithilfe der Feuerwehr nach der Tatwaffe, sogar der zähe Schlamm auf dem Grund des Gülletanks wurde durchsucht.
Die Polizei suchte mithilfe der Feuerwehr nach der Tatwaffe, sogar der zähe Schlamm auf dem Grund des Gülletanks wurde durchsucht. © Heiko Kempken / FUNKE Foto Services | Heiko Kempken

Indizien, Widersprüche, Unschuldsbeteuerungen: Reicht das am Ende des Prozesses für eine Verurteilung wegen Mordes? Ja, sagt Oberstaatsanwältin Birgit Jürgens. „Die Gesamtheit der Indizien“ hätten Thomas S. eindeutig als Täter überführt. Sie fordert in ihrem Plädoyer eine lebenslange Haftstrafe wegen Mordes ohne die Möglichkeit, die Haft nach 15 Jahren auszusetzen.

Die Indizien reichen vorne und hinten nicht, sagt dagegen Verteidiger Hans Reinhardt.  Auch ein unbekannter Täter wäre dazu in der Lage gewesen, die Tat im angegebenen Zeitrahmen zu begehen. Sein Mandant sei zudem öffentlich vorverurteilt worden. Reinhardt beantragt Freispruch.

„In ihrer Gesamtheit sprechen die Indizien eindeutig für die Schuld des Angeklagten“

In seinem Urteil am 6. Oktober 2015 schließt sich das Schwurgericht der Ansicht der Staatsanwältin an. Der Vorsitzende Richter Andreas Labentz spricht von der „Fassade einer Ehe“. In der Tat gebe es keinen eindeutigen Beweis für die Schuld von Thomas S.. Aber im Gegensatz zu Verteidiger Reinhardt nennt er die Indizienkette überzeugend: „Sicher, jedes einzelne Indiz lässt sich widerlegen, aber in ihrer Gesamtheit sprechen die Indizien eindeutig für die Schuld des Angeklagten.” Das Urteil: lebenslange Haft wegen Mordes.

Thomas S. nimmt das Urteil zunächst „äußerlich unbeeindruckt“ auf, berichten Beobachter. Doch als die Justizwachtmeister ihn in den Zellentrakt abführen, wischt er sich Tränen aus den Augen. Mit seinem Verteidiger vereinbart er, sofort Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen. Am Abend des folgenden Tages wird er noch von einem Psychologen begutachtet, der keine Anzeichen sieht für die Absicht einer Selbsttötung. Doch drei Stunden später nimmt sich Thomas S. das Leben.

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Die Nachricht von der Selbsttötung löst in Kirchhellen erneut Entsetzen aus, dazu eine Welle des Mitgefühls für die Hinterbliebenen. Und eine heftige Debatte: Ist der Suizid eher ein Beleg für die Schuld oder für die Unschuld des Verurteilten? Auch zehn Jahre nach der Tat ist diese Debatte noch längst nicht beendet.

Hinweis: Wir berichten in der Regel nicht über Suizide, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben – außer, Suizide erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Falls Sie Suizid-Gedanken haben oder jemanden kennen, der Suizid-Gedanken hat, wenden Sie sich an die Telefonseelsorge unter 0800/1110111 (kostenlos). Die Nummer ist rund um die Uhr besetzt.