Bottrop-Kirchhellen. Früher war alles besser in Kirchhellen? Wir haben ein paar Gegenbeispiele gesammelt, sagt der Heimatverein: Polizeigeschichten aus dem Dorf.

Nein, der allererste Polizeibericht aus Kirchhellen stimmte nicht. „Außer der altherkömmlichen Gewohnheit, sich oft zu prügeln, gibt es keine Bosheit dahier“, lautete die erste und seitdem oft widerlegte Meldung aus dem März 1811. Es gab sehr wohl Mord und Totschlag in Kirchhellen, dazu jede Menge weiterer Untaten. 59 Polizeigeschichten von 1800 bis 1950 haben Michael Löns und Jan Marien vom Heimatverein gesammelt. Drei wollen wir hier erzählen.

Der Dreifachmord am Kotten Luer

Tatort eines Dreifachmordes: der Kotten Luer (rechts) neben der Grafenmühle.
Tatort eines Dreifachmordes: der Kotten Luer (rechts) neben der Grafenmühle. © Heimatverein | Sammlung Rainer Weiß

An den Mord in der Hohen Heide an Revierförster Paul Töfflinger von 1914 erinnert ein Gedenkstein. Weitgehend vergessen dagegen ist der dreifache Mord an der Grafenmühle, für den der Bottroper Bergmann Fritz Kape im Februar 1944 mit dem Fallbeil hingerichtet wurde. Autor Michael Löns hat die Prozessakte im Landesarchiv ausgegraben. Der Fall ist für Löns einzigartig: „Dem Verfasser ist nicht geläufig, wann es je in Kirchhellen einen dreifachen Mord gegeben hat“. Die Brutalität der Morde nennt er „unfassbar“. Das Motiv: Streit um schlechtes Essen.

Bergmannssohn Kape, Jahrgang 1909, war Gelegenheitsarbeiter und oft arbeitslos, bevor er 1938 Hauer auf Prosper III wurde. 1942 lernt er Wilhelmine Luer aus Grafenwald kennen, die beiden heiraten im Juli 1943. Ihr Sohn stirbt im November, drei Tage nach der Geburt. Immer öfter gibt es Streit im Kotten Luer neben der Grafenmühle zwischen Kape, Schwägerin Anna und Schwiegermutter Maria. Häufiger Anlass: Streit ums Essen. Er werde „dem Ding ein Ende machen“, kündigt er seiner Mutter an.

„Es ist unfassbar, dass er zwischen den Taten seine Mahlzeit fortsetzt und das Vieh füttert.“

Michael Löns
Mitautor des Buches „Kirchhellener Polizeigeschichte“

Das tut er am 28. Januar 1944. Beim Mittagessen tötet er erst seine Schwiegermutter mit Stichen in den Hals, kurz darauf seine Schwägerin und zuletzt seine Ehefrau. Die Leichen schleift er in den Pferdestall und versteckt sie unter Stroh. Löns: „Es ist unfassbar, dass er zwischen den Taten seine Mahlzeit fortsetzt und das Vieh füttert.“

Kape flüchtet mit dem Fahrrad und einem Vorrat an Speck und Lebensmitteln nach Oberhausen. Am Abend des 1. Februar kehrt er nach Bottrop zurück. „Über die Maßen leichtsinnig“, kommentiert Löns. Er wird vor ein Sondergericht gestellt, wegen Mordes verurteilt und am Abend des 3. Februar hingerichtet.

Der Mordversuch am „ewigen Kaplan“ Xanten

Opfer eines Mordversuchs: Kaplan Franz Xanten.
Opfer eines Mordversuchs: Kaplan Franz Xanten. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Der „ewige Kaplan“ Franz Xanten, dem die gleichnamige Straße gewidmet ist, war mehr als 70 Jahre lang Geistlicher in Kirchhellen. Zwei Einbrecher versuchen, ihn in der Nacht zum 11. August 1863 umzubringen. Als Xanten im Bett erwacht, liegt eine Schlinge schon um seinen Hals. Ihn rettet ein Knoten, der verhindert, dass die Angreifer die Schlinge zuziehen. Xanten kann sich die Schlinge abstreifen und um Hilfe rufen. Einer der Täter, sagt Xanten später, habe ihn eine Nacht zuvor um eine Mahlzeit angebettelt und sie auch erhalten.

Kommentar der „Essener Zeitung“ zu dem Geschehen: „Wir wollen nicht unbemerkt lassen, dass neuerdings viel verkommenes fremdes Gesindel, namentlich auf der Tour zwischen Sterkrade und Dorsten, herumstreicht.“ Gemeint ist mit der „Tour“ der heutige Alte Postweg.

Dorfprominenz und Schwarzbrenner: Der Fall Körner

Die Geschichte der Familie Körner und den großen Schwarzbrenner-Prozess von 1934 hat Autor Michael Löns intensiv erforscht und bisher unveröffentlichte Quellen angezapft. Insbesondere die Figur von Paul Körner fasziniert ihn: „Er war mit seiner Persönlichkeit einzigartig in Kirchhellen. Man erkennt in ihm den soliden und erfolgreich wirtschaftenden Kaufmann und Landwirt, den großen Wohltäter Kirchhellens und Menschenfreund, den leichtsinnigen Großspekulanten sowie den Schwarzbrenner, der den Fiskus um hohe Beträge Branntweinsteuer prellte und redliche regionale Konkurrenzunternehmen durch seine irreguläre Preisgestaltung stark benachteiligte.“

Die Familie Körner hatte die Burg Booke, die der Burgstraße ihren Namen gab, vom Herzog von Arenberg gepachtet und brannte dort seit 1820 Korn. Das Vermögen der Familie vergrößerte sich beträchtlich durch die Heirat des, pardon, Säufers Joseph Körner 1871 mit Anna Horsthoff. Die erbte von ihrem Vater einen fast 1,5 Quadratkilometer großen Hof an der, man ahnt es, Horsthofstraße.

Damals der höchste Schornstein im Dorf: die Brennerei Körner an der Bahnhofstraße. Heute steht dort das Jugendkloster.
Damals der höchste Schornstein im Dorf: die Brennerei Körner an der Bahnhofstraße. Heute steht dort das Jugendkloster. © WAZ | Archiv Heimatverein

1884 brannte die Burg nieder, zu der auch das heutige Kulturzentrum Hof Jünger gehörte. An der Bahnhofstraße, heute Hauptstraße, baute Körner eine neue Brennerei mit dem höchsten Schornstein im Dorf: 30 Meter. 1905 übernahm Sohn Paul den Betrieb, baute ihn aus bis zu einer Tagesproduktion vom 1000 Litern Schnaps. Die Hochzeit mit Brennerei-Tochter Agnes Böckenhoff brachte eine Mitgift von 500.000 Mark in die Familie.

In dieser Zeit erlebte Kirchhellen den Mäzen Paul Körner: Fast 20 Jahre lang bekam das damals neue Antonius-Hospital kostenlos Milch von Körner. Er stiftete das Grundstück für den Bau der heutigen Alten Post an der Hauptstraße. Für den Neubau der Kirche St. Johannes gab er reichlich, inklusive Kirchenglocke.

Körners Karriereknick setzt Michael Löns auf das Jahr 1924 an. Nach leidlich überstandener Inflation in Deutschland habe Körner einen Kredit über 200.000 Reichsmark für „eine Spekulation in Branntweinsprit“ aufgenommen“. Die ging daneben, ein Schuldner machte Pleite, das Schnapsgeschäft lief schlechter. 1927 wird Körner erstmals anonym wegen Schwarzbrennerei angezeigt, 1928 muss er mit einem Vergleich eine Art der Insolvenz anmelden. 1930 wird er erstmals verhaftet und wegen Schwarzbrennerei verurteilt.

Der richtig große Schwarzbrennerei-Prozess begann im November 1932 mit einer Razzia des Zolls bei Körner. Paul und sein Bruder Ludwig wurden verhaftet und saßen 1933 einen Monat in Untersuchungshaft. 1934 wurden Ludwig Körner und der Brennmeister verurteilt zu sechs und drei Monaten Gefängnis sowie zu sehr hohen Geldstrafen. Paul Körner wurde Verhandlungsunfähigkeit attestiert, das Verfahren gegen ihn 1936 eingestellt.

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Sein Brennrecht allerdings war er los. Der Reichsfinanzhof urteilte auf Körners Beschwerde dagegen: In seinem Betrieb sei „in besonders raffinierter und schwer zu entdeckender Weise schwarzgebrannt worden“. Jahrelang hat Paul Körner auch mit Unterstützung von westfälischer NSDAP-Prominenz um die Wiederherstellung seines Rufs gesorgt, bis hin zu einem Gnadengesuch an den damaligen preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring.

Auf dem Gelände der ehemaligen Brennerei Körner steht heute das Jugendkloster.
Auf dem Gelände der ehemaligen Brennerei Körner steht heute das Jugendkloster. © www.blossey.eu / FUNKE Foto Service | Hans Blossey

1940 wurde die Brennerei endgültig zahlungsunfähig, am, 7. Januar 1941 starb Paul Körner. Seine Witwe Agnes schloss einen Vergleich mit den Schuldnern, der Reichsfinanzverwaltung und der Gemeinde Kirchhellen. Die übernahm das Brennereigelände. 1945 kauften es die Redemptoristen und bauten dort das heutige Jugendkloster.

Michael Löns/Jan Marien: Kirchhellener Polizeigeschichte von 1800 bis 1950 mit ausgewählten Kriminalfällen. Band 55 der Schriftenreihe des Vereins für Orts- und Heimatkunde Kirchhellen. Erhältlich in der Humboldt-Buchhandlung Kirchhellen.